Solange du schweigst
Wenn du redest, stirbt er. Wenn du schweigst, stirbst du.
*
Die Regentropfen rannten in dünnen Bahnen über die bodentiefen Fenster ihrer modernen Wohnung.
Beate Wolkner saß auf der breiten Fensterbank, die Knie angezogen, ein Glas Wasser in der Hand.
Die Stadt glitzerte unter dem nassen Himmel, anonym, kalt – genau so, wie sie es mochte.
Neben ihr auf dem weißen Marmor lag ein altes Foto.
Vergilbt, die Ränder eingerissen.
Eine blasse Frau mit müdem Lächeln blickte in die Kamera.
Ihre Mutter.
Eine Gestalt aus einer Zeit, die Beate längst hinter sich gelassen hatte. Oder doch nicht?
Sie nahm das Glas, drehte es langsam in ihren Händen.
Die Kälte des Wassers kroch in ihre Finger.
„Gut, dass du gegangen bist,“ murmelte sie leise, ohne Bitterkeit, ohne Trauer. Nur eine Feststellung.
Mit 16 hatte sie sie gefunden.
Verloren im billigen Wohnzimmerstuhl, der Geruch von Alkohol und Erbrochenem noch in der Luft.
Tablettenschachteln auf dem Boden verstreut wie weiße Knochen.
Und in den Tagen danach: Behörden, Mitgefühl, leere Worte.
Beate hatte früh gelernt, dass man nur auf sich selbst vertrauen konnte.
Sie strich mit dem Finger über das Foto, fast zärtlich – dann schob sie es entschlossen unter einen Stapel Akten.
Vergangenheit hatte in ihrem jetzigen Leben keinen Platz.
Ihr Smartphone vibrierte auf dem Couchtisch. Eine neue LinkedIn-Nachricht – von einem potenziellen Geschäftspartner.
Beate griff danach, entsperrte das Display mit einem geübten Wisch und las die eingegangene Nachricht:
„Sehr geehrte Frau Wolkner,
ich bin auf Ihr Profil gestoßen, da ich derzeit an einer strategischen Neuausrichtung unseres Nachhaltigkeitsbereichs arbeite – und Ihre Erfahrungen im Bereich „ökologisch-soziale Unternehmensführung“ sind beeindruckend.
Vielleicht gibt es Überschneidungen? Ich würde mich über einen kurzen Austausch freuen – gern digital oder bei Gelegenheit persönlich.
Herzliche Grüße
Martin Bollinger“
LinkedIn war ihr bevorzugter Kanal – sachlich, strukturiert, berechenbar.
Keine emotionalen Ausbrüche, keine Urlaubsbilder, keine Haustiere.
Nur Kontakte, Potenziale, gezielte Verbindungen.
Sie pflegte ihr Profil wie andere ihre Haut – diskret, lakonisch, professionell.
Dort war sie kontrolliert sichtbar.
Für Chancen. Für Einfluss. Für Möglichkeiten, die sie entschied, nicht andere.
Sie las die Nachricht zweimal, dann lehnte sie sich zurück.
Ein vielversprechender Kontakt.
Die Antwort würde nicht lange auf sich warten lassen.
Langsam stand sie auf, streckte sich, schloss für einen Moment die Augen.
Die Musik spielte leise im Hintergrund – ruhige Klavierklänge, fast meditativ.
Es war Montagvormittag.
Sie hatte sich bewusst dafür entschieden, heute von zuhause aus zu arbeiten.
Die Termine waren geblockt.
Nur dieser Tag, nur diese Aufgabe: die Fertigstellung ihrer Präsentation für die TU Dresden.
„Ökologisch-soziale Unternehmensführung im globalen Mittelstand“ – ein Thema, das sie regelmäßig als Gastdozentin unterrichtete und mit dem sie inzwischen bundesweit als Stimme der neuen Wirtschaftsgeneration galt.
Beate mochte diese konzentrierten Phasen.
Keine Mails, keine Statusmeetings, keine Fragen, die längst beantwortet waren.
Nur Klarheit. Struktur. Tiefe.
Sie stellte das Wasserglas ab, nahm die Blaulichtfilterbrille vom Fenstersims und setzte sie auf.
Dann ging sie zurück zum Schreibtisch, richtete den Timer auf dem kleinen analogen Zifferblatt neu aus: 25 Minuten.
Fokuszeit. Danach fünf Minuten Pause.
Diese Rhythmen gab sie auch im Unternehmen vor.
Keine erzwungene Dauerverfügbarkeit, kein Arbeiten im Tunnel.
Stattdessen: strukturierte Zeitblöcke, stilles Arbeiten mit Ergebnisfokus.
Wer sie kannte, wusste: Beate erwartete Leistung – aber sie baute die Räume, in denen Leistung möglich war.
Sie achtete auf ihren Kreislauf, auf Flüssigkeitszufuhr, auf Bewegungsimpulse.
Kurze Atemübungen, ein paar Dehnungen, stille Blicke aus dem Fenster: alles hatte Platz.
Denn Klarheit kam nicht aus Anspannung, sondern aus bewusstem Rückzug.
Der Blick auf ihr Handy war der letzte für diesen Abschnitt.
Die Nachricht von Martin Bollinger blieb offen im Display.
Beate tippte nicht, antwortete nicht.
Sie ließ sie stehen wie eine geöffnete Tür, durch die sie später ganz bewusst gehen würde.
Dann schaltete sie das Gerät aus.
Stille.
Der nächste Block begann.
Die Zahlen auf dem Timer liefen ab.
Noch vier Minuten, dann würde sie wieder aufstehen, die Brille absetzen, ein neues Glas Wasser einschenken.
Beate hielt sich an ihre Zeitfenster wie an unsichtbare Geländer – nicht aus Zwang, sondern weil Klarheit Planung brauchte.
Als das leise „Klack“ des Timers ertönte, stand sie auf, trat ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört.
Sie atmete tief ein. Kontrolliert. Fokussiert.
Erst jetzt schaltete sie ihr Handy wieder ein.
Ein Blick auf das Display. Keine weiteren Nachrichten.
Martin Bollinger wartete.
Sie setzte sich, nahm das Gerät in die Hand und schrieb – direkt, höflich, mit der nötigen Portion Distanz:
Beates LinkedIn-Nachricht an Martin Bollinger:
Guten Tag Herr Bollinger,
vielen Dank für Ihre Nachricht und Ihr Interesse an meiner Arbeit.
Tatsächlich werde ich übermorgen geschäftlich in Dresden sein – ich halte dort eine Vorlesung an der TU und werde ab ca. 14:00 Uhr verfügbar sein.
Wenn Sie möchten, lässt sich in diesem Rahmen ein kurzes Treffen realisieren.
Herzliche Grüße
Beate Wolkner
Martins Antwort, etwa eine Minute später:
Liebe Frau Wolkner,
wie passend – ich bin unter der Woche in Dresden und wohne derzeit im Taschenbergpalais.
Wenn es für Sie angenehm ist, lade ich Sie herzlich auf ein gemeinsames Mittagessen ins Palais Restaurant ein.
Ich freue mich auf den Austausch.
Beste Grüße
Martin Bollinger
Beates abschließende Bestätigung:
Gerne. Ich werde pünktlich um 14:00 Uhr dort sein.
Bis Mittwoch.
Dann griff sie zu ihrem Kalender – analog, dunkelgrünes Leder, Lesezeichen aus schwarzem Seidenband.
Zwischen Mittwochvormittag und den Terminen am Donnerstag war noch Platz.
Sie notierte mit gleichmäßiger Schrift:
„TU Dresden, 11:00 Uhr – Vortrag / Martin Bollinger, Palais, 14:00 Uhr“
Dann hielt sie kurz inne, bevor sie daneben ein kleines, beinahe unsichtbares Häkchen setzte.
Erledigt. Fixiert. Vorgemerkt.
Am Nachmittag um 16:17 Uhr stand der letzte Satz der Präsentation.
Beate lehnte sich zurück, speicherte das Dokument und atmete leise durch.
Fertig.
Die Folien lagen klar strukturiert vor ihr: übersichtlich, pointiert, evidenzbasiert.
Keine visuellen Spielereien, kein überflüssiger Text.
Ein Vortrag für denkende Menschen – so, wie sie es mochte.
Sie nahm die Brille ab, legte sie neben den Laptop und drehte die Schultern langsam nach hinten.
Es war eine angenehme Vorstellung, gleich zwei Ziele mit einem Tag zu verbinden.
Akademischer Anspruch und unternehmerische Perspektive – und das Ganze bei einem Mittagessen in einem der besten Restaurants der Stadt.
Beate klickte sich noch einmal durch die Online-Speisekarte des Palais.
Saisonal, fein abgestimmt, modern interpretiert.
Wildkräutersalat mit gebranntem Ziegenkäse, Saiblingsfilet auf fermentiertem Lauch, Sorbet aus schwarzem Johannisbeerbalsam.
Sie lächelte flüchtig.
Küche war Kommunikation.
Und wer gut auswählte, zeigte Geschmack – in mehr als einer Hinsicht.
Es war selten, dass sie sich auf ein Gespräch außerhalb akademischer oder strategischer Kontexte freute.
Doch etwas an Martin Bollingers Nachricht hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt.
Keine Plattitüden, keine schleimige Ehrerbietung – nur Klarheit. Interesse. Form.
Ein Gespräch unter Profis.
Sie schloss das Browserfenster, blickte für einen Moment aus dem Fenster.
Dresden würde interessant werden.
*
Beate Wolkner saß auf der Rückbank des Taxis, die Hände locker im Schoß gefaltet, den Blick aus dem Fenster gerichtet.
Die Innenstadt von Dresden zog in gepflegtem Spätsommerlicht an ihr vorbei – barocke Fassaden, breite Gehwege, gelegentlich das helle Lachen von Studenten.
Das Taxi glitt ruhig durch den Verkehr, fast lautlos, als würde auch es sich dem Takt ihrer Gedanken unterwerfen.
Sie dachte an die Präsentation am Vormittag zurück.
Klarer Ablauf, starker Einstieg, kontrollierte Energie.
Die Diskussion im Anschluss war lebendig gewesen – gezielte Nachfragen, zustimmendes Nicken, respektvolle Stille, wenn sie sprach.
Ein junger Mann aus dem Masterjahrgang hatte sogar um ein weiterführendes Gespräch gebeten.
Beate hatte ihm eine ihrer Visitenkarten gereicht – strukturiert, weiß auf schwarz, ohne Schnörkel.
So wie sie selbst.
Noch vor der Abfahrt hatte sie auf der Damentoilette im TU-Hauptgebäude den Spiegel geprüft.
Ein Kammstrich durch das dichte, hellblonde Haar, dann der Lippenstift – ein gedeckter Ton zwischen Rosenholz und Selbstbeherrschung.
Kein Versuch zu gefallen, nur die finale Geste der Kontrolle.
Wie das Einrasten eines Uhrenmechanismus.
Jetzt, im Taxi, spürte sie dieses wohlige Gefühl, das sich nach einem gelungenen Auftritt einstellte – ruhig, kraftvoll, nicht euphorisch, sondern solide.
Ihr Selbstwert speiste sich nicht aus Applaus, sondern aus Wirkung.
Und heute hatte sie gewirkt.
Sie war vorbereitet, klar, wach.
Als das Taxi an der Semperoper vorbeifuhr und dann links in die Zufahrt zum Taschenbergpalais Kempinski einbog, warf sie einen kurzen Blick auf die Uhr: 13:56 Uhr.
Pünktlich.
Der Fahrer bremste weich, und noch bevor der Wagen vollständig stand, hatte Beate ihre Tasche geschlossen, die Schultern zurückgenommen und die Türklinke gefasst.
Mit einem knappen Nicken stieg sie aus, bezahlte, drehte sich zum Gebäude.
Der schwere Sandstein, das elegante Vordach, das diskrete Drehen der Glastür – alles trug den richtigen Ton.
Sie hatte sich für ein schlichtes, dunkelblaues Etuikleid entschieden, das weder under- noch overdressed wirkte.
Die Absätze waren moderat, die Uhr am Handgelenk funktional.
Ihr Schritt war ruhig, bestimmt, mit dieser Art von innerer Aufrichtung, die nicht um Aufmerksamkeit bat, sondern sie mühelos erhielt.
In wenigen Minuten würde sie Martin Bollinger gegenübertreten.
Beate trat durch die sich langsam drehende Glastür des Hotels.
Die Kühle der Lobby empfing sie mit dem dezenten Duft von Zitrusholz und frisch gebügeltem Leinen.
Der Lärm der Stadt blieb wie durch eine unsichtbare Schleuse draußen.
Drinnen: weiche Schritte auf Marmor, gedämpfte Stimmen, das Klirren von feinem Besteck aus der Ferne.
Ein Concierge nickte ihr höflich zu, sie erwiderte das Nicken kaum merklich und überquerte die Lobby in gerader Linie.
Der Eingang zum Palais Restaurant lag wie ein stilles Versprechen an der Seite – goldene Lettern auf dunklem Glas, flankiert von zwei schlanken Vasen mit weißen Callas.
Die Empfangsdame begleitete Beate in Richtung des Tisches, an dem ihre Verabredung wartete.
Der Weg durch den elegant gestalteten Gastraum war kurz, aber voller Details: cremefarbene Wände, poliertes Silber, diskrete Gespräche, Tischdecken ohne eine einzige Falte.
Es war ein Raum, in dem sich Menschen gern verstanden fühlten, ohne zu laut sein zu müssen.
Martin Bollinger erhob sich, als er sie kommen sah.
Ein dezentes Lächeln, offen, ruhig, kein Zögern.
Er trug einen hellgrauen Anzug mit schmalem Revers, das Hemd blassblau, der erste Knopf offen.
Entspannt, aber klar in der Wirkung.
„Frau Wolkner.“
Seine Stimme war warm, tragend, unaufdringlich.
„Schön, dass Sie es einrichten konnten.“
Beate reichte ihm die Hand, ihr Griff fest, aber nicht betont.
„Ich danke für die Einladung.“
Sie nahm Platz, legte ihre Tasche neben sich auf den Stuhl.
Die Speisekarte lag bereits gefaltet am Platz, doch keiner griff sofort danach.
Ein Kellner trat diskret an den Tisch, schenkte Wasser ein.
Als er ging, war für einen Moment nur der leise Klang des Bestecks vom Nachbartisch zu hören.
Martin nahm als Erster das Gespräch auf.
„Ihr Vortrag heute – öffentlich oder geschlossene Veranstaltung?“
„TU Dresden, Masterstudiengang Wirtschafts- und Nachhaltigkeitsmanagement.“
Beate lächelte leicht.
„Eine angenehme Runde. Wach, interessiert. Kein Frontalbeschuss, wie man es manchmal erlebt.“
„Sie unterrichten regelmäßig?“
Er war aufrichtig interessiert, ohne sich anbiedernd zu geben.
„Zweimal pro Semester. Ich schätze den Austausch. Nicht alles lässt sich im Berufsalltag reflektieren – manchmal braucht es Räume, in denen Denken wieder erlaubt ist.“
Martin nickte.
„Ein seltener Luxus, dass Denken nicht sofort monetarisiert werden muss.“
Beate hob das Wasserglas, beobachtete ihn kurz über den Rand hinweg.
Er sprach mit Ruhe. Keine überflüssigen Betonungen.
Ein Mann, der seine Worte nicht versenden, sondern anlegen wollte.
„Und Sie? Noch in der Umstrukturierungsphase oder schon auf dem Sprung zum Ergebnis?“, fragte sie, die Gesprächsführung wieder an sich ziehend.
„Im Übergang. Wir stoßen gerade einen kompletten Nachhaltigkeitsbereich neu an – was nicht bedeutet, dass er schon nachhaltig gedacht wird.“
Ein Anflug von Ironie blitzte in seinem Ton auf.
„Deshalb suche ich nach Menschen, die den Begriff nicht nur im Wording führen, sondern als Haltung.“
Beate nickte langsam.
„Haltung wird unterschätzt.“
Dann griff sie zur Karte, blätterte ruhig.
Martin folgte ihrem Beispiel.
„Ich habe mir die Karte im Vorfeld angesehen“, sagte Beate, ohne den Blick zu heben.
„Der Saibling klingt exzellent.“
„Dann nehme ich ihn auch. Es spricht für Menschen, die wissen, was sie bestellen.“
Sie sah auf, leicht amüsiert.
„Oder für Menschen, die wissen, wie man einen Konsens herstellt.“
Beide lachten leise.
Der Kellner kam zurück, sie bestellten, ohne Umstände.
Das Gespräch setzte sich fort – elegant, wechselnd zwischen Fachlichem und Persönlichem, ohne je in Belanglosigkeit abzurutschen.
Keiner drängte, keiner wich aus.
Ein Spiel, auf Augenhöhe.
Während sie über unternehmerische Strategien und Nachhaltigkeitsansätze in mittelständischen Märkten diskutierten, streute Martin beiläufig persönliche Bemerkungen ein, hin und wieder in die Struktur des Gesprächs eingeflochten.
Er sprach von seiner Begeisterung für innovative Food-Start-ups, von einer Golfreise nach Südtirol und davon, wie sein zwölfjähriger Sohn ihn mit einer Excel-Tabelle zur Planung familiärer Aktivitäten überraschte.
Und dann war da dieser Moment, in dem er, wie zufällig, vom selbstgebauten Drachen seiner Tochter erzählte – der in einem Park in der Nähe der Elbe beinahe in einer Baumkrone hängen geblieben wäre.
Ein kleiner, leiser Stolz blitzte in seinem Blick auf – nicht großspurig, sondern menschlich.
Nahbar.
Beate lächelte an den richtigen Stellen.
Nicht zu viel, nicht zu wenig.
Sie stellte Fragen, die wirkten, und doch forderten sie Tiefe.
Martin reagierte mit einer Offenheit, die er selbst vermutlich nicht erwartet hatte.
Nach gut einer Stunde veränderte sich die Dynamik.
Die Atmosphäre wurde weicher, gelöster.
Das Fachliche blieb im Hintergrund, persönliche Themen gewannen Raum – Reisen, Literatur, Architektur.
Martin lachte herzlich, als Beate eine Anekdote über eine misslungene Sushi-Verkostung in Kyoto erzählte, bei der sie versehentlich rohes Pferdefleisch für Thunfisch hielt – und sich höflichkeitshalber trotzdem durchkämpfte.
„Wenn ich ehrlich bin“, sagte er schließlich, während er das Glas Tonic Water zur Seite schob, als müsse er sich erst sammeln, „es ist selten, dass ich jemandem begegne, der mich aus dem Takt bringt. Und das will was heißen – bei meinem Alltag.“
Beate hielt seinem Blick stand, ruhig, offen, ihr Lächeln ein Hauch weicher als zu Beginn.
„Manche Begegnungen“, sagte sie leise, „haben ihr eigenes Timing.“
Es entstand eine Stille, nicht unangenehm, sondern fast fragil.
Ein Kellner trat heran, erkundigte sich diskret, ob man noch etwas wünsche.
Martin schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück, sein Blick blieb bei Beate.
„Was halten Sie davon“, sagte er mit beiläufiger Natürlichkeit, „wenn wir unser Gespräch oben in der Lounge bei einem Espresso fortsetzen? Ruhiger. Unaufgeregter. Ich habe da noch ein, zwei Ideen, die ich gern mit Ihnen teilen würde.“
Beate nickte, ruhig.
„Ich schätze ruhige Orte.“
Sein Ton blieb geschäftlich – gerade so.
Doch darunter vibrierte ein anderer Subtext, kaum hörbar, aber deutlich spürbar.
Beate hielt kurz inne, bevor sie nickte.
Elegant. Beinahe unschuldig.
„Sehr gern, Herr Bollinger.“
Sie standen beide gleichzeitig auf, in flüssiger Bewegung, als wäre das längst abgesprochen gewesen.
Martin strich die Jacke glatt, ließ den Blick beiläufig über Beates Silhouette gleiten – nicht gierig, nur registrierend.
Beate bemerkte es.
Und ließ es zu.
Gemeinsam verließen sie das Restaurant, begleitet vom dezenten Nicken des Personals.
Der Übergang in die Lounge war nahtlos – ein Aufzug, ein stiller Gang, gedämpftes Licht, der warme Klang eines Flügels, der wie aus einer anderen Zeit aus dem Kaminzimmer herüberwehte.
Zwei erfolgreiche Menschen. Zwei Gesprächspartner auf Augenhöhe. Zwei Masken, die sich nicht mehr ganz so sicher anfühlten.
Die Lounge im oberen Stockwerk war fast leer.
Nur das leise Klirren von Gläsern, ein gelegentliches Auflachen, gedämpft durch Samt und Schatten.
Dunkelblaue Sessel, flache Tische – eine Bühne für Nähe, ohne sie zu verlangen.
Beate saß ihm gegenüber auf einem niedrigen Sofa, der Espresso noch unberührt in ihrer Hand.
Martin hatte sich für einen hausgemachten Eistee entschieden – Rosmarin, Zitrone, Eiswürfel wie gefrorene Gedanken.
Er sprach langsamer jetzt, die Stimme tiefer, weicher.
Das Gespräch war längst über berufliche Pfade hinausgewachsen.
Es ging um Lebensziele, Werte, Wünsche – Dinge, die man normalerweise nicht beim ersten Treffen teilt.
Martin empfand eine angenehme Schwere in der Brust, eine Art Wohlgefühl, das er in den letzten Jahren selten gespürt hatte.
Wie lange war es her, dass jemand ihm wirklich zugehört hatte? Nicht wegen seines Namens, nicht wegen seiner Position. Einfach… ihm.
Sein Alltag bestand aus Terminen, Verantwortung, Erwartungen – und manchmal fragte er sich, wann genau die Leidenschaft aus seinem Leben verschwunden war.
Heute Abend war anders.
Beate war anders.
Ein dezentes Vibrieren in seiner Tasche.
Er sah nicht hin. Er wusste, wer es war. Er wusste, was erwartet wurde – ein kurzes Lebenszeichen, ein Anruf, vielleicht sogar ein Foto vom Dessert, das er nicht gegessen hatte. Stattdessen nur ein Schluck Tee, kühl und zitronig, mit einem Nachgeschmack aus Schuld.
Beate schwieg einen Moment, ließ ihren Blick über die aufgeschlagenen Seiten eines Kunstbandes auf dem Tisch gleiten. Dann sah sie ihn an – ruhig, nicht auffordernd, aber wach.
„Sie wirken, als wären Sie selten hier“, sagte sie leise.
Martin lächelte, fast schief.
„Ich bin ständig irgendwo – aber selten… da.“
Die Worte standen einen Moment zwischen ihnen, bevor sie sich auflösten wie Nebel im Licht.
Er hätte gehen können.
Er hätte eine Grenze ziehen können.
Aber stattdessen sagte er:
„Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ein Gespräch hatte, das ich nicht geplant habe.“
Beate antwortete nicht sofort.
Sie nahm einen Schluck, stellte die Tasse ab – kontrolliert, elegant.
Dann neigte sie den Kopf leicht.
„Vielleicht sollte man solche Gespräche nicht planen. Vielleicht finden sie einen – oder gar nicht.“
Wieder vibrierte das Handy. Wie ein leises Klopfen an eine Tür, die er nicht öffnen wollte. Er ließ es geschehen, unbewegt.
Er wusste, dass der Moment brüchig war.
Und dass genau das ihn so verlockend machte.
Kein Blick, kein Zucken.
Nur das weiche Licht der Lounge und Beates Blick, der blieb.
Beate spürte seine Gedanken, so klar, als würde er sie laut aussprechen.
Sie war daran gewöhnt, das leise Vibrieren von Schuld und Begehren zu erkennen.
Aber diesmal war es anders.
Martin war charmant, ja, aber nicht plump.
Er sah sie an, als wäre sie eine Entdeckung, nicht eine Eroberung.
Auch in ihr regte sich etwas, das sie lange nicht mehr zugelassen hatte: ein winziges Aufflackern echter Sympathie.
Aber Sympathie war keine Schwäche – nicht heute.
Sie lehnte sich ein wenig vor, ließ eine Haarsträhne beiläufig über ihre Schulter gleiten.
Ihr Blick hielt dem seinen stand – offen, selbstbewusst, ein stummes „Wenn du willst.“
Martin lächelte – ein echtes Lächeln, gemischt aus Erleichterung und Entschlossenheit.
Er stand auf, hielt ihr die Hand hin, als wäre es der natürlichste Schritt der Welt.
„Ohne Verpflichtungen,“ sagte er leise, fast ein Versprechen an sich selbst.
„Nur dieser Abend.“
Beate legte ihre Hand in seine, warm und ruhig.
„Nur dieser Abend,“ wiederholte sie.
Sie verließen die Lounge, Seite an Seite, ohne Eile, aber mit einer unausgesprochenen Übereinkunft.
Der Aufzug glitt lautlos in die Höhe.
Sie lachten leise über einen albernen Spruch Martins, ein letzter Moment der Leichtigkeit, bevor die Tür der Suite sich hinter ihnen schloss.
Was dann geschah, blieb verborgen.
Man konnte es nur erahnen: Zwei Körper, die sich suchten und fanden, ohne Zurückhaltung, ohne falsche Scham.
Ein Moment reiner, freier Lust.
Einige Stunden später verließ Beate das Hotel.
Die Nacht war kühl und klar, ein feiner Nebel hing über der Stadt.
Sie trug ihr Business-Outfit mit derselben Präzision wie beim Eintreffen – nichts war verrutscht, kein Zeichen des Chaos.
Sie fühlte sich tiefenentspannt, leicht wie nach einer langen, intensiven Meditation.
Ihre Schritte waren federnd, fast beschwingt.
Kein Bedauern, keine Reue.
Nur ein leiser Triumph, der sie von innen heraus wärmte.
Beate zog die Tür des gerade bestiegenen Taxis zu und ließ das Hotel in Richtung Görlitz langsam hinter sich.
Morgen würde die Welt dieselbe sein.
Aber heute Nacht – gehörte ihr.
*
Der Nebel hing noch schwer über den Feldern, als der schwere Viehtransporter rumpelnd auf den Hof einbog.
Alexander Hahnemann stand bereits bereit.
Die Hände locker auf dem Rücken verschränkt, die kastanienbraunen Haare leicht zerzaust vom kühlen Wind.
Der Fahrer, ein stämmiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht, stieg aus und winkte ihm zu.
„Neue Lieferung, Herr Hahnemann. Frisch von der Zuchtstation in Havelberg.“
Alexander nickte knapp und trat näher, sein prüfender Blick glitt ruhig über die aufgeregten Tiere, die im Inneren des Transporters scharrten.
„Sehen gut aus,“ murmelte er und klopfte anerkennend gegen die Bordwand.
„Wie ist der Kollagenwert?“
„Top,“ bestätigte der Fahrer und zog eine Mappe hervor. „Alle im oberen Bereich. Beste Voraussetzungen für die Weiterverarbeitung.“
Alexander überflog die Papiere sorgfältig, bevor er sie unterzeichnete.
Er wusste, worauf es ankam.
Nicht nur Geschmack oder Fleischmasse bestimmten die Qualität – sondern vor allem der natürliche Kollagengehalt der Tiere.
Ein hochwertiges Bindegewebe sorgte für eine bessere Struktur in seinen Spezialwürsten.
Keine künstlichen Zusatzstoffe, keine minderwertige Massenproduktion.
Er drehte sich zu dem Fahrer und deutete auf die weitläufigen, sauber gehaltenen Stallungen.
„Hier wachsen sie langsam, stressfrei. Keine Käfighaltung, keine Gewalt. Die Qualität beginnt bei der Haltung.“
Der Fahrer grinste breit.
„Deshalb kaufen Ihre Kunden so gern bei Ihnen, Herr Hahnemann. Man schmeckt den Unterschied.“
Alexander lächelte kaum merklich.
Es war ein ruhiges, zufriedenes Lächeln.
Nicht aus Eitelkeit – sondern aus der tiefen Überzeugung, alles richtig zu machen.
Sie begannen, die Tiere langsam auszuladen.
Alexander beobachtete jede Bewegung, achtete auf Gang, Atemfrequenz, den Blick der Tiere.
Keine Hast. Kein Zwang.
Er bestand darauf, dass seine Schweine in ihrem gesamten Leben – und auch am Ende – keinen unnötigen Schmerz oder Angst empfanden.
Nur so entstand echtes Vertrauen – und echte Qualität.
Als der Transport abgeschlossen war, wischte sich der Fahrer den Schweiß von der Stirn.
„Übrigens,“ sagte er beiläufig, „Ihre aktuelle Ausstellung ist wirklich bemerkenswert.“
„Das PORCOLEUM,“ erklärte Alexander.
„Vergoldete Schweineherzen, Unsterblichkeit als Wertschätzung für ihr für uns geopfertes Leben“.
„Jede Kunstform sucht sich ihre Symbole,“ murmelte er.
Er hatte die Sammlung vor einigen Jahren begonnen – inspiriert durch die Körperwelten des Gunther van Hagens.
Er schätzte die Präzision der Plastinate, die stille Schönheit der konservierten Körper.
Es war eine Form der Verewigung, eine Feier der Struktur und Funktion – kalt, still, ewig.
Sehr ähnlich seinen eigenen… Sammlungen.
Der Fahrer wischte sich den Nacken mit dem Ärmel ab
„Darf ich fragen, Herr Hahnemann… wie genau macht man das? So ein Herz vergolden, meine ich. Ist das echtes Gold?“
Alexander sah ihn einen Moment schweigend an, dann nickte fast nachsichtig.
„Nicht getaucht, wie mancher sich das vorstellt. Und auch kein Blattgold – zu empfindlich.“
„Wir arbeiten mit elektrolytischer Goldplattierung. Der plastinierte Körper wird als Kathode in eine Cyanidlösung getaucht.
Ein schwacher Strom legt Gold in feiner, gleichmäßiger Schicht ab – ein paar Mikrometer, mehr braucht es nicht.“
Der Fahrer runzelte die Stirn, halb beeindruckt, halb verunsichert.
„Also… wie bei Schmuck?“
„Fast. Alternativ nutze ich PVD – Physical Vapor Deposition. Das Herz liegt im Vakuum, Gold verdampft und schlägt sich auf atomarer Ebene nieder.
Kein Quecksilber, keine Altmetallromantik. Nur reine Struktur. Dichte. Zeitlosigkeit.“
Der Fahrer pfiff leise durch die Zähne.
„Und was kostet so was?“
Alexander lächelte – ein Lächeln ohne Wärme.
„Weniger, als ein Diamant aus der Asche Ihres Haustiers. Und deutlich… ehrlicher. Vergoldung ist keine Kunst. Sie ist eine Haltung.“
Später, als er durch seine Stallungen ging und den rhythmischen Lauten der Schweine lauschte, fühlte Alexander Hahnemann diese eigentümliche Ruhe, die ihn jedes Mal erfüllte.
Hier gab es keine Lügen, keine Heuchelei.
Nur das einfache, ehrliche Leben – und den Übergang.
Und er allein entschied, wie dieser Übergang aussah.
Bevor er sich auf den Weg zur Villa machte, bog Alexander in den niedrigen Seitenflügel ab, in dem sein privates Labor untergebracht war – klinisch weiß, mit Edelstahlflächen, säurebeständigen Waschbecken und deckenhohen Kühlregalen.
Er trug bereits Handschuhe, als er ein kleines Tablett aus der Kühleinheit zog. Darauf: Gewebeproben von drei frisch entladenen Tieren – jede sauber vakuumiert, mit Etikett versehen.
„117-B“, murmelte er und öffnete die Probe. Ein Stück Muskelfleisch, exakt 200 Milligramm, schimmerte rosig im Neonlicht.
Er platzierte es auf der Waage, dann in ein Glasröhrchen, gab die Hydrolyselösung dazu und schob es in den Wärmeschrank: 120 Grad, 16 Stunden.
Danach nahm er das Röhrchen von „115-A“ – über Nacht entwickelt – und setzte es in den Kalorimeter. Die Anzeige sprang an, flackerte kurz, dann erschien das Ergebnis:
Kollagenwert: 13,8 %
.Er lächelte – kaum merklich, aber zufrieden.
„Ideal.“
Er wandte sich dem wandmontierten Bildschirm zu und rief das Profil des Tieres auf.
Fütterungszyklus: optimal.
Bewegungsmuster: ruhig, gleichmäßig.
Haltungsindex: 98 von 100.
Er dokumentierte den Wert, dann drehte sich zu seinem tragbaren SHG-Scanner – KLEOS 3. Mit geschmeidiger Bewegung aktivierte er das Gerät, scannte über das noch ruhende Tier 117-B im Quarantänegehege.
Das Display zeigte einen pulsierenden Strom aus tiefblauen Linien – kräftige Kollagenstrukturen, jung und elastisch.
„Vollkommen“, murmelte er.
Dann legte er die Datenmappe beiseite – und machte sich auf den Weg in Richtung Villa, wo hinter einer massiven Eichentür bereits ein neuer Platz in der Sammlung auf ihn wartete.
Die schwere Tür schloss sich leise hinter ihm.
Die Luft im Raum war kühl, getragen von einem leichten, metallischen Geruch.
Alexander zog die Handschuhe über, als wäre dies ein heiliges Ritual.
Die Regale reichten vom Boden bis zur Decke, perfekt angeordnet, kein Staubkorn zu sehen.
In jeder einzelnen Vitrine ruhte ein vergoldetes Herz – kleine Kunstwerke, funkelnd im matten Licht der eingelassenen Deckenstrahler.
Er schritt langsam an den Vitrinen entlang, wie ein Kurator in seinem eigenen Museum.
Seine Fingerspitzen strichen beinahe ehrfürchtig über das Glas, ohne es wirklich zu berühren.
Heute hatte er sich ein älteres Stück vorgenommen.
Vitrine Nummer siebenundzwanzig.
Mit ruhiger Hand öffnete er die kleine Tür, nahm das Herz heraus – schwer, glatt, kalt.
Das Gold hatte mit den Jahren eine tiefe, warme Patina angenommen, die ihm eine eigenartige Lebendigkeit verlieh.
Alexander setzte sich auf einen schlichten, lederbezogenen Stuhl am Fenster.
Auf dem kleinen Tisch neben ihm lagen ein weiches Tuch und eine Flasche spezieller Politur.
Langsam, fast zärtlich, begann er das Herz zu reinigen.
Jede Bewegung war präzise, bedacht – eine Choreografie aus Respekt und Besitz.
In seinen Gedanken tauchten Bilder auf.
Ein Sommertag.
Ein weites Feld, das leise Quieken der Tiere in der Ferne.
Ein blondes Mädchen, lachend, ihre Hände ausgestreckt.
Ein kurzer Moment des Vertrauens.
Alexander lächelte leicht.
Nicht aus Sentimentalität – sondern aus dem Bewusstsein, dass er diesen Moment bewahrt hatte.
Unvergänglich gemacht.
Draußen begann es zu regnen.
Die Tropfen schlugen gleichmäßig gegen die hohen Fensterscheiben, ein leises, beruhigendes Geräusch.
Als das Herz wieder makellos glänzte, betrachtete er es eine Weile in der Hand – dann stellte er es mit größter Sorgfalt zurück in die Vitrine.
Ein leises Klicken bestätigte, dass sie sicher verschlossen war.
Er trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme und ließ seinen Blick über seine Sammlung schweifen.
Jedes einzelne Stück – ein Triumph.
Ein Beweis für sein Können, seine Disziplin, seine Macht.
Die Welt draußen mochte glauben, ihn zu kennen.
Doch hier drinnen, in dieser Stille, kannte ihn niemand.
Nur er selbst – und seine Werke.
*
Der Aston Martin glitt über die Auffahrt zum hochmodernen Geschäftszentrum am Stadtrand.
Glasfassaden funkelten in der Mittagssonne, Anzugträger huschten wie Ameisen über die gepflasterten Wege.
Alexander Hahnemann parkte lässig direkt vor dem Haupteingang, sein Wagen zog die Blicke auf sich wie ein Magnet.
Er stieg aus, strich sein Jackett glatt und betrat das Foyer mit der selbstverständlichen Eleganz eines Mannes, der wusste, was er wollte – und wie er es bekam.
Der Termin verlief reibungslos.
Sein neuestes Premium-Produkt – eine Serie von feinen Gourmetwürsten aus artgerechter Haltung – überzeugte die Entscheider auf ganzer Linie.
Es wurden Verträge unterschrieben, Hände geschüttelt, Höflichkeiten ausgetauscht.
Alexander blieb charmant, höflich, kontrolliert.
Als er wenig später wieder in seinem Wagen saß, die frisch unterzeichneten Verträge auf dem Beifahrersitz, erlaubte er sich ein kurzes, zufriedenes Lächeln.
Er liebte diesen Moment – wenn alles sich in seinem Sinne fügte.
Auf dem Rückweg war die Autobahn wie leergefegt.
Der Wagen flog beinahe über den Asphalt, während klassische Musik leise aus den Lautsprechern strömte.
Nach etwa einer Stunde zwang ihn ein leuchtendes Tanksymbol zum Anhalten.
Er verließ die Autobahn an der nächsten Raststätte – eine jener funktionalen Anlagen, die überall gleich rochen: nach heißem Gummi, Kaffee und Benzin.
Alexander fuhr an eine freie Zapfsäule, stieg aus und begann zu tanken.
Sein Blick schweifte beiläufig über das Gelände.
Und da war sie.
Eine junge Frau, zierlich, etwa Mitte Dreißig – blond, maximal 1,65 m groß.
Sie saß auf einer niedrigen Betonmauer am Rand des Rastplatzes, eine kleine Reisetasche zu ihren Füßen, den Blick auf ihr Handy gerichtet.
Blasses Haar, helles Oberteil, schlanke Beine in engen Jeans.
Auf den ersten Blick unscheinbar.
Allein.
Abgelenkt.
Doch irgendetwas an ihr war… anders.
Eine Gelassenheit vielleicht, die nicht ganz zu dem Bild der üblichen Rastplatzverlorenen passte.
Alexander betrachtete sie einen Moment zu lange.
Nur ein Sekundenbruchteil.
Dann wandte er sich ab, schob den Zapfhahn zurück in die Säule und bezahlte.
Während er zur Kasse ging, kreuzten sich ihre Blicke flüchtig.
Ihr Gesicht blieb regungslos – weder aufflammende Hoffnung noch Unsicherheit.
Nur eine kleine Neigung des Kopfes, kaum wahrnehmbar.
Alexander bemerkte es.
Natürlich bemerkte er es.
Ein paar Minuten später trat er aus der Raststättenfiliale in das milde Licht des frühen Nachmittags. In der Hand hielt er eine kleine Papiertüte mit Wasser und einem Sandwich. Sein Blick schweifte beiläufig über das Gelände. Die junge Frau saß immer noch auf der niedrigen Betonmauer. Die Reisetasche lag zu ihren Füßen, das Handy locker in der Hand. Alexander ging nicht direkt auf sie zu, sondern nahm einen weiten Bogen. Er wirkte, als hätte er sie erst im letzten Moment bemerkt. Als er auf ihrer Höhe war, verlangsamte er den Schritt und hob leicht die Augenbrauen, ein Ausdruck höflicher Besorgnis. „Alles in Ordnung?“ fragte er in entspanntem Tonfall. Die Frau hob den Blick. Ihre blauen Augen wirkten offen, aber ein winziger Schatten lag darin – Müdigkeit vielleicht, oder Misstrauen. „Mein Auto hat den Geist aufgegeben,“ sagte sie und zuckte die Schultern, als wolle sie ihr Pech nicht dramatisieren. „Ich warte eigentlich auf eine Mitfahrgelegenheit. Aber… bis jetzt hat sich nichts ergeben.“ Ihr Lächeln war klein, aber echt. Eine Mischung aus Selbstironie und leiser Enttäuschung. Alexander lehnte sich leicht auf den Absatz, wirkte, als würde er überlegen. „Wo wollen Sie denn hin?“ fragte er nach einer kurzen Pause. „Richtung Süden,“ antwortete sie. „Ein verlängertes Wochenende – Entspannung, frische Luft. Jetzt scheint das alles ins Wasser zu fallen.“ Sie klang nicht weinerlich, nicht klammernd. Nur pragmatisch. Alexander lächelte leicht. „Ich fahre auch in die Richtung,“ sagte er. „Wenn Sie möchten, nehme ich Sie ein Stück mit.“ Sie schien einen Moment zu überlegen – ein Moment, der für Alexander endlos zu dauern schien. Doch dann nickte sie, ohne große Umstände. „Das wäre wirklich nett.“ Sie hob ihre Reisetasche auf und trat an seine Seite. „Alexander,“ stellte er sich vor und reichte ihr die Hand. „Beate,“ antwortete sie ruhig. Ein kurzer Händedruck – fest, aber nicht aufdringlich. Gemeinsam gingen sie zum Wagen. Alexander öffnete ihr die Beifahrertür mit einer kleinen, unaufdringlichen Geste. Beate glitt in den Beifahrersitz und legte die Tasche zu ihren Füßen. Als Alexander sich ans Steuer setzte, spürte er einen leisen Hauch von Erwartung in der Luft. Nicht Furcht – etwas anderes. Eine seltsame, fast aufregende Spannung. Der Motor schnurrte auf, als er den Wagen anließ. Sie fuhren los, den breiten Asphaltstreifen hinab, hinaus auf die offene Straße.
Der Wagen glitt ruhig über den Asphalt, die Nachmittagssonne spiegelte sich in der Windschutzscheibe, gedämpft von den getönten Scheiben. Das Innere war angenehm kühl, der Motor kaum hörbar. Alexander fuhr zügig, aber nicht aggressiv. Er hielt sich an die linke Spur, wenn möglich, wechselte frühzeitig. Beate saß ruhig neben ihm, die Hände im Schoß gefaltet, den Blick geradeaus gerichtet. Ein angenehmer Duft ging von ihr aus – zurückhaltend, klar, wie etwas, das nichts zu verbergen hatte. „Was machen Sie beruflich?“ fragte Alexander nach einer Weile. „Beratung. Strategieentwicklung, Unternehmensethik. Vorträge, Workshops.“ Sie sprach ruhig, ohne aufzutrumpfen. „Ich war vor 14 Tagen in Dresden – Vortrag an der Uni.“ Alexander nickte. „Und das Wochenende? Wirklich einfach nur zur Entspannung?“ „Das war der Plan.“ Eine kleine Pause. „Vielleicht lässt er sich ja noch retten.“ Er reagierte nicht sofort. Dann: „Ich denke, manche Pläne entstehen erst, wenn man unterwegs ist.“ Beate drehte kurz den Kopf zum Fenster, sah auf die Landschaft, die vorbeizog – Felder, kleine Ortschaften, Windräder. Sie sagte nichts. „Und Sie?“ fragte sie schließlich. „Was machen Sie, wenn Sie nicht zufällig Frauen mit defekten Autos aufgabeln?“ Er lächelte leise. „Ich leite einen Betrieb. Wurstwarenfabrik, eigener Tierbestand. Kleiner Standort, ländlich, solide. Nicht besonders aufregend.“ „Aufregung ist überschätzt.“ „Sie mögen Ordnung?“ „Ich mag Struktur.“ Sie zog die Augenbraue leicht hoch. „Das ist nicht dasselbe.“ Ein weiterer Moment Stille. Kein Unbehagen – eher ein leichtes Kräftemessen, noch höflich, fast charmant. „Musik?“ fragte Alexander und deutete aufs Radio. „Nur wenn ich mitentscheiden darf.“ „Deal.“ Er reichte ihr die Steuerung. Sie scrollte konzentriert durch die Optionen, ließ ein paar Pop-Playlists achtlos durchrauschen und blieb schließlich bei einem ruhigen, instrumentalen Titel hängen – Klavier, unaufdringlich, melancholisch. „Passt zum Licht,“ sagte sie knapp. Alexander nickte. Noch ein paar Kilometer, dann sagte er, beinahe beiläufig: „Sie wirken nicht wie jemand, der viel wartet.“ Beate sah ihn an, aber ohne sich zu drehen. „Ich warte nicht. Ich beobachte.“ Ein Windstoß zischte kurz am Wagen vorbei. Dann wieder nur Motor und Musik. Sie fuhren weiter. Zwei Fremde. Zwei Stimmen, die sich abtasteten. Kein Lachen, kein Streit, keine Nähe. Nur diese seltsame Art von gegenseitiger Achtsamkeit. „Ich hoffe, Sie haben keine Angst vor langen Autofahrten mit Fremden,“ sagte Alexander schließlich, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „Nicht, wenn der Fremde in einem Aston Martin fährt,“ erwiderte Beate trocken und fügte hinzu:“ Genauso könnte ich Sie fragen, ob Sie keine Angst haben, sich eine skrupellose Serienmörderin als Anhalterin ins Auto einzuladen. Dann drehte sie den Kopf zu ihm. „Außerdem war die Alternative, an der Raststätte zu versauern.“ Ein Moment Stille. Nur das gleichmäßige Summen der Reifen auf der Straße. Nach einem kurzen Moment antwortete Alexander trocken: Es ist statistisch sehr unwahrscheinlich, dass zwei Serienmörder in einem Auto sitzen.
Beate lachte leise. Kein helles Lachen – eher ein kontrolliertes Ausatmen mit einem Anflug von Belustigung.
„Das stimmt,“ sagte sie. „Zum Glück bin ich nicht gut in Wahrscheinlichkeiten. Ich verlasse mich lieber auf Intuition.“
„Und die sagt Ihnen…?“
„Sie sind harmlos.“
Sie sah ihn von der Seite an, prüfend, fast so, als müsste sie ihre Einschätzung nochmal verifizieren.
„Zumindest bisher.“
Alexander zog nur leicht die Mundwinkel nach oben, ließ den Blick auf der Straße.
„Ich nehme das als Kompliment.“
„War auch so gemeint.“
Die Musik lief weiter. Die Landschaft zog in gemächlichem Tempo vorbei, der Himmel begann sich am Horizont in zarte Goldtöne zu färben.
Die Autobahn war nicht voll, der Verkehr flüssig.
„Sie fahren sehr ruhig,“ sagte Beate irgendwann.
„Ich hasse Unruhe. Vor allem bei Geschwindigkeit.“
„Ein Mann mit Prinzipien?“
„Ein Mann mit einem gesunden Verhältnis zu Risiken.“
„Gesund,“ wiederholte sie leise.
„Interessantes Wort.“
Er warf ihr einen kurzen Blick zu.
„Sie glauben nicht an gesund?“
„Ich glaube an bewusst.“
„Sie analysieren gern.“
„Berufskrankheit.“
Wieder Stille. Aber jetzt war sie dichter.
Nicht unangenehm – fast magnetisch.
Nach einigen weiteren Kilometern – das Ortsschild eines kleinen, unscheinbaren Rasthofs glitt vorbei – sagte Alexander, ohne jede Betonung:
„Ich werde gleich tanken. Möchten Sie einen Kaffee oder etwas anderes?“
Beate zuckte kaum merklich die Schultern.
„Wenn er stark ist, schwarz – ja. Sonst nicht.“
„Ich kenne eine Stelle. Nicht offiziell, aber ruhiger als die üblichen Tankstellen.“
Sie nickte, sagte nichts weiter.
Wenig später nahm Alexander eine Ausfahrt, fuhr von der Autobahn ab und über eine schmale Nebenstraße.
Ein kleiner Parkplatz erschien zwischen zwei Feldern, umgeben von Pappeln.
Dahinter: eine alte Zapfsäule, ein Automat, ein überdachter Picknicktisch. Kein Mensch zu sehen.
Alexander stellte den Wagen ab, öffnete die Tür.
„Bleiben Sie sitzen. Ich hole uns was.“
„Sehr aufmerksam,“ murmelte Beate – mit einem Unterton, der schwer einzuordnen war.
Sie lehnte sich zurück, sah ihm durch die Frontscheibe nach.
Wie er sich bewegte. Ruhig, zielgerichtet, aber nicht routiniert.
Nicht wie ein Mann, der oft Gesellschaft hatte.
Nicht wie einer, der sich erklären musste.
Ihre Finger ruhten locker auf dem Knie, ganz entspannt.
Doch der Blick, den sie ihm hinterherschickte, war messerscharf.
Er kehrte nach wenigen Minuten mit zwei dampfenden Bechern zurück.
„Der Automat lebt noch,“ sagte er trocken.
„Zucker?“
„Nein. Nur Wahrheit.“
Er reichte ihr den Becher, stieg wieder ein.
Sie nahmen beide einen Schluck. Der Kaffee war überraschend gut.
Oder einfach genau richtig für diesen Moment.
„Also,“ sagte Beate ruhig.
„Was wäre, wenn die Statistik sich heute geirrt hätte?“
Alexander stellte den Becher ab.
Dann sah er sie zum ersten Mal nicht nur kurz an – sondern richtig.
Langsam, ernst, eindringlich.
„Was wäre,“ erwiderte er, „wenn das genau das ist, was sie nie tut?“
Ein Moment Stille.
Dann – fast gleichzeitig – zuckten beide Mundwinkel.
Nicht als Lächeln.
Eher wie das Zucken eines Vorhangs, der sich einen Spalt öffnet.
Der Rest der Straße lag vor ihnen.
Die Sonne stand tief.
Und die Nacht war noch lange nicht geschrieben.
Der Wagen fuhr wieder, das Sonnenlicht flackerte durch die Pappeln der Landstraße, bevor sich die Strecke erneut mit der Autobahn vereinte.
Beide hatten ihre Plätze wieder eingenommen. Doch etwas hatte sich verschoben.
Der Kaffee war getrunken. Die Fragen wurden spitzer.
„Was glauben Sie eigentlich, was Menschen dazu bringt, sich auf Fremde einzulassen?“ fragte Beate.
Alexander hielt den Blick auf der Straße.
„Mangel. Sehnsucht. Langeweile. Oder Hoffnung.“
„Hoffnung worauf?“
„Dass der Fremde netter ist als die, die man kennt.“
Sie nickte.
„Oder ehrlicher.“
„Oder gefährlicher.“
Ein kurzer Seitenblick.
Sie erwiderte ihn mit einem winzigen Lächeln.
Die Gespräche drehten sich weiter – jetzt über Vertrauen, über Moral, über Schuld.
Nicht direkt, sondern über Beispiele.
Dokumentationen, Fälle, Grenzerfahrungen.
Jeder brachte einen Namen, eine Geschichte, einen Gedanken ein.
Wie beiläufig. Aber jeder Satz saß.
Der Abend rückte näher. Die Lichtstimmung veränderte sich. Schatten krochen an den Fenstern entlang.
„Wie spät ist es?“ fragte Beate.
Alexander warf einen Blick aufs Armaturenbrett.
„18:32.“
„Wie lange fahren wir schon?“
„Ziemlich genau vier Stunden.“
„Und wie lange haben Sie vor, noch zu fahren?“
Er lächelte leicht.
„Bis wir angekommen sind.“
„Wo ist das?“
„Das werden wir sehen.“
Ein Spiel begann. Und keiner sprach es aus.
Ein Tanz, auf engstem Raum, bei Tempo 120.
Das Licht der untergehenden Sonne wanderte über das Armaturenbrett.
Ein goldener Streifen, der sich langsam in ein fahles Grau verwandelte.
Der Motor summte leise.
Die Reifen rollten gleichmäßig über die Fahrbahn.
Zwei Silhouetten, eingefasst von Ledersitzen, getrennt durch eine Mittelkonsole – nah, aber unendlich weit entfernt.
Beate saß gerade, der Blick nach vorn.
Kein Wippen, kein Wippen mit dem Fuß. Keine Bewegung.
Nur die Finger der linken Hand, die in regelmäßigen Abständen über die Naht der Hose strichen – einmal vor, einmal zurück.
Alexander fuhr.
Seine Schultern bewegten sich kaum.
Nur ein winziges Zucken im Kiefer, als das Licht der ersten entgegenkommenden Scheinwerfer ihn für einen Moment blendete.
Auf der rechten Seite flogen die Leitpfosten vorbei.
Weiß – schwarz – weiß – schwarz.
Wie der Takt eines Metronoms.
Beates Lippen waren leicht geöffnet. Ihr Atem war flach, kontrolliert.
Einmal blickte sie zur Seitenscheibe, ihr Spiegelbild verzerrte sich leicht in der Scheibe.
Sie schloss für einen Moment die Augen.
Alexander schaute nicht zu ihr.
Aber er registrierte alles.
Der Schatten ihres Profils.
Die Bewegungen ihres Brustkorbs.
Den leichten Geruch von Shampoo, der trotz der geschlossenen Fenster im Raum blieb.
Eine Brücke kam.
Kurzes Dunkel.
Dann Licht.
Dann wieder Dunkel.
Der Himmel wurde violett.
Der Asphalt unter ihnen verlor langsam seine Farbe, wurde zu Fläche.
Beate griff langsam in ihre Jackentasche.
Langsam. Geräuschlos.
Zog ein kleines, eckiges Fläschchen hervor – Handdesinfektion.
Sie drückte einmal, rieb die Hände.
Langsam, methodisch, wie in einem Ritual.
Alexander blickte aus dem Augenwinkel.
Dann wieder nach vorn.
Keine Frage.
Keine Reaktion.
Nur das dumpfe Leuchten der Anzeige: Tempo 121 km/h.
Ein LKW wurde überholt.
Beide sahen geradeaus.
Die Straße lag offen vor ihnen.
Noch Hunderte Kilometer.
Kein Ziel. Kein Halt. Kein Ton.
Nur die Stille,
die immer enger wurde.
Das Licht war fast ganz verschwunden.
Die Autobahn lag wie ein schwarzes Band unter den Rädern.
Im Inneren des Wagens: nur gedämpftes Armaturenleuchten, das Licht der Anzeigen – neutral, klinisch.
Beate bewegte sich kaum.
Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, ihre Hände lagen locker auf dem Oberschenkel.
Dann, ohne Vorwarnung, sagte sie:
„Angenommen … die Statistik würde sich irren.“
Ihre Stimme war ruhig. Fast beiläufig.
„Und Sie wären tatsächlich ein Serienmörder. Wie würden Sie vorgehen?“
Alexander schwieg.
Der Wagen rauschte weiter, gleichmäßiges Tempo.
Dann, nach einem kurzen Atemzug, antwortete er – nicht überrascht, nicht abwehrend:
„Vermutlich … ruhig. Ohne Hast. Ich würde meine Opfer nicht suchen, sondern warten, bis sie mich finden.“
Beate drehte den Kopf, sah ihn von der Seite an.
„Das klingt passiv.“
„Das ist selektiv.“
Sie hob eine Braue.
„Und dann?“
„Dann würde ich die Kontrolle behalten. Kein Blut, kein Lärm. Kein unnötiges Risiko.“
Er blickte weiter auf die Straße.
„Ich würde sie beruhigen, Vertrauen schaffen, Nähe herstellen. Und wenn der Moment da ist … würde ich verschwinden. Ohne Spur.“
Beate nickte langsam.
Keine Bewertung. Keine Frage.
Dann sah sie wieder aus dem Fenster.
„Interessant.“
Eine Pause.
Dann stellte Alexander die Gegenfrage, genau im selben Ton:
„Und Sie? Wenn Sie eine Serienmörderin wären – wie würden Sie es machen?“
Beate zögerte nicht.
„Charmant. Ohne Gewalt. Ich würde Männer auswählen, die glauben, überlegen zu sein. Ich würde sie glauben lassen, sie hätten die Kontrolle.“
Ihre Stimme war weich, fast ein wenig belustigt.
„Sex. Nähe. Vertrauen. Und dann – einfach verschwinden. Kein Drama. Kein Blut. Nur Leere.“
Alexander lächelte leicht.
Es war kein freundliches Lächeln.
Eher ein Spiegel.
„Das klingt … elegant.“
„Ich mag Effizienz.“
Sie sah wieder nach vorn.
Der Wagen rauschte durch die Dunkelheit.
Beide schwiegen eine Weile.
Keiner lachte. Keiner widersprach.
Die Worte hingen im Raum, wie feine Fäden, die sich berührten – ohne zu reißen.
Dann sagte Beate, sehr leise:
„Statistiken sind eben auch nur Geschichten.“
Alexander nickte.
„Und Geschichten … können tödlich sein.“
Der Wagen glitt weiter durch die Nacht.
Nichts hatte sich verändert – und doch war alles anders.
Die Autobahn war leerer geworden.
Nur hin und wieder ein Scheinwerfer in der Gegenrichtung, kurz und grell, dann wieder Dunkel.
Der Asphalt glänzte feucht im Licht der Fahrbahnmarkierungen. Irgendwo musste es geregnet haben.
Beate saß ruhig da. Ihr Körper war vollkommen entspannt, aber ihre Haltung wirkte präzise.
Wie etwas, das sorgfältig abgelegt worden war.
Die Hände lagen wieder im Schoß, eine über der anderen. Ihre Fingernägel glänzten matt.
Alexander lenkte mit zwei Fingern, die anderen ruhten locker am Lenkrad.
Er schien nicht müde. Nicht nervös.
Nur still.
Die Musik war inzwischen verstummt – irgendwann hatten sie sie ausgeschaltet, ohne es zu besprechen.
Das Auto war der einzige Klang. Das Surren der Reifen, das gelegentliche Klacken des Blinkers.
Sonst nichts.
Keine weiteren Fragen.
Keine neuen Gedanken.
Nur die Worte von vorhin, die nachklangen wie Schritte in einem langen Flur.
Beate blinzelte. Einmal. Langsam.
Dann drehte sie den Kopf, sah ihn nicht an, sondern hinaus – auf die vorbeiziehenden Reflektionen der Leitplanken.
Das sanfte Pulsieren der Straßenlaternen, dort, wo sie eine Brücke unterquerten.
Alexander veränderte seine Sitzposition kaum. Nur die Schultern sanken einen Millimeter tiefer.
Vielleicht. Oder auch nicht.
Ein Schild zog vorbei.
Noch 173 Kilometer bis zur nächsten großen Stadt.
Wohin sie fuhren, war nie besprochen worden.
Beate griff nach ihrer Wasserflasche. Trank einen kleinen Schluck, setzte sie langsam zurück.
Ihre Bewegungen waren ruhig, mechanisch – wie jemand, der nichts Unnötiges tun will, um nicht aufzufallen.
Und dabei ganz genau weiß, dass er längst gesehen wurde.
Der Himmel war schwarz.
Keine Sterne. Keine Orientierung.
Im Auto: zwei Atemzüge, zwei Silhouetten, zwei Geschichten.
Kein Plan. Kein Ziel. Kein Wort.
Und in der Luft:
Etwas Unausgesprochenes.
Etwas, das sich noch nicht entschieden hatte, ob es Lust oder Gefahr war.
Die Anzeige auf dem Navigationsgerät zeigte: München: 200 km.
Die Route war klar. Die Straße frei. Der Innenraum des Wagens still.
Alexander warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm, dann auf die Uhr.
„Wenn wir so weiterfahren, sind wir gegen zwei Uhr in München,“ sagte er ruhig.
„Also bei mir.“
Beate reagierte nicht sofort.
Dann drehte sie langsam den Kopf zu ihm, ohne den Rest ihres Körpers zu bewegen.
„Und dann?“
„Das frage ich Sie. Wie geht’s für Sie weiter – mitten in der Nacht, irgendwo im Süden?“
Beate zog die Augenbraue leicht hoch.
„Gute Frage.“
„Ich hätte ein Gästezimmer.“
„Mit Fensterverriegelung?“
„Ohne.“
Er lächelte.
„Aber mit frischer Bettwäsche.“
Beate schien kurz zu überlegen. Oder sie tat nur so.
Dann sagte sie leise:
„Und keine Sorge, dass ich Sie im Schlaf umbringe?“
Alexander lachte nicht.
Er antwortete ruhig.
„Angesichts der Umstände würde ich sagen: Das Risiko besteht. Deshalb plane ich ja gerade, Ihnen zuvorzukommen.“
Beate wandte sich wieder nach vorn.
Ein kaum hörbares Ausatmen.
„Wie umsichtig.“
„Ich bin halt Gastgeber mit Verantwortung.“
Sie schwieg. Für einen langen Moment.
Dann drehte sie den Kopf wieder zu ihm.
Ihr Blick war ruhig. Kein Lächeln, keine Schärfe. Nur ein Satz:
„Gästezimmer klingt vernünftig. Solange es keine Schweine im Keller gibt.“
Alexander antwortete ohne Zögern:
„Nur im Nebengebäude.“
Der Wagen glitt lautlos durch die Dunkelheit.
Die Nacht war tiefschwarz geworden, das Licht der Scheinwerfer schnitt wie ein Skalpell durch die leere Straße.
Alexander sprach, ohne den Blick von der Straße zu nehmen – fast beiläufig, wie ein Mann, der eine nüchterne Frage stellt:
„Wenn wir also davon ausgehen, dass ich Sie heute Nacht töte – was meinen Sie, wie ich Ihre Leiche entsorgen sollte?“
Beate antwortete nicht sofort.
Sie ließ den Kopf leicht zur Seite kippen, sah ihn an, als prüfte sie die Tiefe seiner Stimme.
Dann:
„Ich vermute, Sie haben bereits einen Plan.“
Alexander nickte nur leicht.
„Natürlich.“
Er fuhr noch einige Meter in Stille, bevor er fortfuhr – ruhig, sachlich, beinahe zärtlich:
„Ich würde Ihnen das Herz entnehmen – mit viel Sorgfalt. Es wird gereinigt, konserviert und dann in einer speziell angefertigten Form vergoldet. Es bekommt einen Platz in einem privaten Raum meines Hauses. Sehr würdevoll. Sehr still.“
Eine kurze Pause.
„Der Rest des Körpers wird an meine Tiere verfüttert. Keine Spuren. Kein Abfall. Alles in den Kreislauf zurückgeführt.“
Beate nickte langsam, als höre sie einem ungewöhnlichen, aber logischen Konzept zu.
„Effizient. Und… kunstvoll.“
„Ich glaube an Nachhaltigkeit,“ sagte Alexander schlicht.
Ein Moment verging, dann war es Beate, die sprach.
Leise, aber präzise:
„Und wenn es umgekehrt kommt? Wenn ich Sie töte – heute Nacht?“
Alexander drehte nur leicht den Kopf.
„Ja. Wie wird dann meine Leiche entsorgt?“
Beate zog die Lippen leicht zusammen, als überlege sie einen Moment.
Dann sagte sie:
„Das übernimmt der Bestatter.“
Eine Pause.
„Ihr Ableben wird aussehen wie ein plötzlicher Herzinfarkt. Sehr tragisch, sehr sauber. Nichts, das man sezieren würde.“
Alexander schwieg.
Sein Mundwinkel zuckte kaum merklich.
„Also diskret.“
„Diskret,“ wiederholte Beate.
Dann fuhren sie weiter.
Keiner sprach.
Keiner fragte nach dem Plan B.
Die Straße lag vor ihnen.
Schwarz, glänzend, offen.
Und alles, was kam, würde Kunst oder Kompost sein.
*
Es war Sommer gewesen.
Ein heißer, flirrender Nachmittag irgendwo am Rand der Siedlung, wo der Asphalt in Schotter überging und die Fliegen tiefer flogen als sonst.
Alexander war sechs Jahre alt.
Klein, still, ein Kind mit großen, suchenden Augen und einer Neigung zur Vorsicht.
Die Mädchen waren älter gewesen. Zwei von ihnen trugen blonde Zöpfe, eine hatte eine Sonnenbrille in der Hand, obwohl sie im Schatten stand.
Sie hatten ihn „Ali“ genannt, so, wie ihn zu Hause niemand nannte.
Nicht freundlich.
Eher wie ein Spielzeug.
Es war ein Hof gewesen, hinter einem Bauernhaus, leer und staubig.
Sie hatten gelacht. Erst nur leise, dann schrill.
Eine von ihnen hatte ihm eine Mohrrübe gezeigt, eine andere rief: „Die Schweine haben Hunger!“
Und dann – ohne viel Kraft – hatten sie ihn gestoßen.
Die Tür des Stalls fiel zu, mit einem metallischen Klong.
Er hörte das Einrasten des Bolzens.
Dann nur noch Gackern, das sich langsam entfernte.
Drinnen war es warm.
Feucht.
Der Boden aus Stroh und Dreck.
Schweine, neugierig, massig, kamen näher. Schnüffelten. Schubsten ihn.
Er hatte sich in die Ecke gedrückt.
Versuchte, nicht zu atmen.
Nicht zu schreien.
Er wusste nicht, wie lange er dort war. Eine Stunde. Zwei?
Am Ende hatte ihn ein Landwirt gefunden.
Die Mädchen waren weg.
Niemand hatte gefragt, warum er dort war.
Seine Mutter hatte ihn angeschrien, sein Vater war nüchtern genug, ihm eine Ohrfeige zu geben – für das „Herumstreunen“.
Aber in ihm war etwas eingerastet.
Nicht gebrochen – das kam später.
Eingerastet. Wie ein Gedanke, der nie wieder weggeht.
Dass Kontrolle nicht gegeben wird.
Dass Nähe ein Trick ist.
Dass Schweine nicht lachen – nur fressen.
Dann war es Spätsommer gewesen, ein früher Abend, wie sie in dieser Gegend üblich waren – staubig, träge, mit einer bleiernen Stille über dem Hof.
Alexander war acht Jahre alt und wohnte mit seiner Mutter in einem kleinen Nebengebäude des alten Bauernhofs.
Ein günstiges Zimmer – notdürftig isoliert, feucht im Winter.
Die Frau, die den Hof betrieb, hatte selbst drei Kinder: alle Mädchen, alle blond, alle älter als Alexander.
Sie mochten ihn nicht.
Sie kicherten, wenn er in Gummistiefeln vorbeiging. Warfen ihm Stroh hinterher, spuckten in seinen Schulranzen, zogen ihm die Mütze vom Kopf und liefen kreischend davon.
Einmal hatten sie ihn eingesperrt – im Stall, stundenlang, allein zwischen den Schweinen.
Er hatte geschrien, geweint, gebettelt. Niemand hatte ihn gehört.
Danach hatte er aufgehört, etwas zu sagen.
An diesem Abend war die Luft warm, der Himmel rosa über den Feldern.
Er saß auf einem umgestürzten Bottich und schnitzte mit einem alten Küchenmesser an einem Stück Holz, das keiner Form folgte.
Das älteste der Mädchen – Clara – kletterte auf eine hohe Leiter am Seitenflügel des Hofs.
Oben auf dem Dachfirst lag ein Ball.
Sie rief etwas, lachte. Alexander saß unten, sah zu.
Nicht mit Wut.
Nicht mit Angst.
Eher mit einer dumpfen, inneren Hitze, die sich wie ein Muskel spannte, ohne dass er wusste, woher.
Claras Beine waren braun von der Sonne, ihre Haare zu einem losen Pferdeschwanz gebunden.
Sie war hoch oben. Sicher.
Laut.
Alexander stand auf.
Langsam.
Er ging zur Leiter. Niemand achtete auf ihn.
Er legte beide Hände an die Leiter.
Sie wackelte leicht. Clara rief: „He! Lass das!“
Er sagte nichts.
Und dann – zog er sie weg.
Mit einem schnellen, ruckartigen Zug.
Ein Schrei.
Ein Schlag.
Stille.
Clara lag seltsam verdreht auf dem Boden.
Ihre Augen waren offen, aber sie bewegte sich nicht.
Alexander rührte sich nicht.
Dann – Panik.
Er packte Claras Arme, zog sie über den Hof, hinter das Stallgebäude, durch das knarzende Tor in die Dunkelheit des Schweinestalls.
Es war warm dort.
Modrig.
Lebendig.
Die Tiere bewegten sich, grunzten, aber blieben ruhig.
Er ließ sie los.
Sie rutschte in das Stroh wie eine Puppe. Ohne Ton. Ohne Widerstand.
Er rannte weg.
Am nächsten Morgen war sie verschwunden.
Keine Spuren. Kein Körper. Kein Blut.
Die Polizei kam.
Hunde suchten.
Die Mutter weinte, tagelang.
Aber Clara blieb verschwunden.
Wie vom Erdboden verschluckt.
Alexander sagte nie ein Wort.
Doch als er das nächste Mal an der Stalltür vorbeiging und das Schmatzen der Schweine hörte –
wusste er es.
Nicht mit Sicherheit.
Aber mit Gewissheit.
Und irgendetwas in ihm – atmete ruhiger.
*
Das Navi blinkte kurz auf.
Dann wieder.
Noch einmal.
„Vollsperrung – Umleitung folgt.“
Alexander bremste sacht, nahm den Blinker.
Hinter der nächsten Ausfahrt stand ein Polizeiwagen quer auf der Spur. Blaulicht in Zeitlupe. Zwei Beamte, die müde wirkten. Gelbe Westen, wortlose Zeichen.
„Na großartig“, murmelte Alexander und folgte der beschilderten Umleitung.
Die neue Route führte hinunter von der Autobahn – hinaus ins Schwarze.
Beate sah auf das Display.
Dörfer, Kurven, endlose Landstraßen.
„Wie viele Kilometer mehr?“
„Vierzig. Vielleicht fünfzig. Aber es wird dauern. Keine Ahnung, wie viele Traktoren heute Nacht noch unterwegs sind.“
Stille.
Sie fuhren vorbei an dunklen Feldern, durch Alleen, die wie Tunnel wirkten.
Manchmal schimmerte in der Ferne das Licht einer Scheune. Manchmal nichts.
Dann, nach ein paar Minuten:
„Wenn Sie fahren wollen – gern. Ich spüre langsam den Nacken.“
Beate sah ihn an. „Sie lassen wirklich jemanden wie mich Ihren Aston Martin fahren?“
Alexander sagte ohne Zögern:
„Ja, unter einer Bedingung: Wer meinen Wagen fährt, den möchte ich duzen.“
Beate blinzelte einmal.
„Verständlich.“
Dann, nach einem Moment:
„In Ordnung. Dann duze ich dich. Aber nur während der Fahrt.“
Alexander grinste. „Abgemacht.“
Sie hielten auf einem kleinen, trostlosen Rasthof. Drei Lichter flackerten, als hätte jemand vergessen, den Tod zu hereinzulassen.
Ein Schild wies auf eine verlassene Tankstelle. Dahinter ein WC-Häuschen, eine parkende Kühlzugmaschine mit laufendem Motor.
Beate stieg aus. Streckte kurz die Schultern, dann ging sie zur Tankstelle.
Alexander blieb am Wagen, fuhr sich durch die Haare.
Ein paar Minuten später kehrte Beate zurück. Zwei Pappbecher in der Hand, dampfend.
Sie reichte ihm einen.
„Kaffee. Schwarz. Der gute aus dem Automaten der Einsamkeit.“
„Ich bin gerührt.“ Er nahm den Becher, roch kurz daran.
Dann: „Und du hast bestimmt Gift reingerührt, richtig?“
Beate lächelte.
„Natürlich. Ich will schließlich am Steuer sitzen, wenn du stirbst.“
Alexander nahm einen Schluck. Dann noch einen.
Dann trank er den Rest in einem Zug aus.
„Gut. Wenn ich in dreißig Minuten noch lebe, dann haben wir nur einen Serienkiller im Auto.“
Sie tauschten die Plätze.
Beate ließ sich hinter dem Steuer nieder wie jemand, der keine Eile hat – aber keine Fehler macht.
Der Motor schnurrte, als hätte er sich gefreut.
Sie schaltete, lenkte, bog aus der Einfahrt.
Die Nacht nahm sie wieder auf.
Still, dunkel, gespannt wie ein Drahtseil.
Und irgendwo, zwischen Kilometer 302 und dem nächsten Dorf, fragte Alexander:
„Sag mal … gibt es eigentlich einen Punkt, an dem man aufhört, nur zu denken – und beginnt, zu entscheiden?“
Beate antwortete nicht sofort.
Dann sagte sie:
„Ja. Meistens merkt man’s daran, dass es zu spät ist.“
Der Becher lag leer in der Mittelkonsole.
Beates Finger lagen entspannt am Lenkrad. 10 und 2 Uhr.
Sie fuhr ruhig, gleichmäßig. Ohne zu hetzen, aber auch ohne Zögern.
Die Dörfer, durch die sie fuhren, lagen still wie ausgestorbene Bühnenbilder.
Hinter den Fenstern: Dunkelheit.
Auf den Straßen: nur sie.
Alexander hatte nichts mehr gesagt, seit er den Kaffee getrunken hatte.
Keine Witze. Keine Andeutungen.
Er hatte sich einfach zurückgelehnt. Den Blick nach vorn. Die Hände im Schoß.
Fast meditativ.
Dann, exakt auf der Minute, drehte er den Kopf zu ihr.
„Ich lebe noch.“
Beate nickte.
„Enttäuschend?“
„Vielleicht.“
Sie zögerte.
„Oder beruhigend.“
Er hob leicht die Brauen.
„Du hast also geblufft.“
Sie sah ihn nicht an.
„Ich nenne es: strategische Geduld.“
Alexander schnaubte leise. Keine echte Belustigung – eher Respekt.
„Du wolltest wissen, ob ich den Kaffee trotzdem trinke.“
„Ich wollte sehen, ob du Angst hast.“
Ein kurzer Moment. Dann:
„Und?“
Beate zuckte kaum merklich mit den Schultern.
„Du warst durstig.“
Sie bogen in eine lange Kurve, durch einen Streifen Wald.
Die Bäume warfen flimmernde Schatten auf die Windschutzscheibe.
Wie flüchtige Finger, die den Lack streifen.
Dann Stille.
Bis Alexander sagte:
„Ich hab’s nie verstanden – dieses Bedürfnis, Menschen testen zu müssen.“
Sein Blick blieb vorn.
„Aber du brauchst das, oder? Kontrolle. Das Wissen, wer den Finger am Abzug hat.“
Beate antwortete sofort, als hätte sie das schon oft gesagt.
„Jeder hat den Finger am Abzug. Nur die meisten merken’s erst, wenn sie längst geschossen haben.“
Ein paar Kilometer weiter ein Bahnübergang.
Schranken unten. Rotes Licht.
Ein einzelner Zug. Lang, träge, wie ein träumender Koloss.
Sie hielten.
Beate legte die Hände in den Schoß.
Der Motor summte leise.
Alexander blickte zur Schranke.
Dann zu ihr.
„Wenn du wirklich jemanden töten wolltest – würdest du es vorher ankündigen?“
Sie drehte den Kopf.
„Würdest du?“
Sein Blick blieb starr.
„Nein.“
„Ich auch nicht.“
Der Zug war vorbei.
Die Schranken hoben sich.
Sie fuhren weiter.
Noch 137 Kilometer bis München.
Noch zwei Atemzüge Stille.
Dann Alexander:
„Du fährst gut.“
Beate:
„Ich habe oft geübt. Männer geben einem selten das Steuer freiwillig.“
Eine Pause.
„Aber sie geben es – irgendwann.“
Und wieder war die Straße das Einzige, was noch antwortete.
In weißen Streifen.
In leiser Geschwindigkeit.
Der Wind rauschte leise durch einen Spalt des Seitenfensters. Ein kaum hörbares Flüstern, das gegen das monotone Summen der Reifen fast romantisch wirkte.
Beate steuerte den Wagen durch eine langgezogene Kurve, der Tacho pendelte bei hundertvierzig.
Alexander hatte den Kopf zur Seite gedreht, das Kinn leicht gesenkt, als würde er dösen. Doch seine Stimme war klar, als er sagte:
„Du weißt, dass ich dich gerade genau dort habe, wo ich dich haben wollte.“
Beate reagierte nicht sofort. Ihre Finger blieben ruhig am Lenkrad, die Augen auf der Fahrbahn.
„Ach ja?“
Kein Spott. Keine Ironie. Nur eine neutrale Frage.
„Du bist am Steuer meines Autos. Mitten in der Nacht, irgendwo zwischen Nirgendwo und München. Und ich sitze daneben. Keine Ausfahrt. Kein Verkehr. Kein Zeuge.“
Er machte eine kurze Pause, ehe er hinzufügte:
„Du kannst weder fliehen, noch mich angreifen, ohne alles zu riskieren.“
Beate hob leicht die Augenbraue, lächelte schmal.
„Und was denkst du, was ich tun würde, wenn ich es könnte?“
Alexander sah sie nicht an. Er blickte geradeaus, als würde er mit der Nacht sprechen.
„Du würdest es versuchen. Wenn du müsstest. Wenn du den Hauch eines Zweifels hättest, dass ich dir gefährlich werde.“
Sie schwieg. Vielleicht, weil es stimmte.
Dann sagte er, fast beiläufig, als ob er über das Wetter spräche:
„Aber ich werde dich nicht umbringen.“
Diesmal drehte Beate den Kopf, sah ihn direkt an.
Keine Abwehr. Kein Misstrauen. Nur Konzentration.
„Weil du plötzlich ein Herz hast?“
Alexander lachte leise.
„Nein. Weil du kein Opfer bist.“
Eine kleine Pause.
„Als ich dich an dieser Raststätte gesehen habe, allein mit dem Koffer, ein bisschen zu aufrecht, ein bisschen zu ruhig – da dachte ich: Vielleicht.“
Er neigte den Kopf leicht, als würde er sich an das Bild erinnern.
„Vielleicht bist du eine von denen, die glauben, sie hätten alles im Griff. Und die es lernen müssen.“
Ein kurzes, kaum hörbares Lächeln in seiner Stimme.
„Aber du hast es nicht gelernt. Du hattest es längst.“
Beate fuhr weiter. Keine Reaktion. Keine Antwort.
Alexander fuhr fort:
„Du bist frech. Keck. Furchtlos auf eine Art, die nicht vorgespielt ist. Du testest nicht, um zu provozieren. Du testest, weil du nur dann vertraust.“
Er sah sie jetzt an. Direkt.
„Und du bist nicht gekommen, um zu sterben.“
Beate erwiderte den Blick im Rückspiegel. Eine Sekunde zu lang.
Dann wandte sie sich wieder der Straße zu.
„Interessant,“ sagte sie nur.
„Du klingst, als würdest du mich mögen.“
Alexander lehnte sich zurück, faltete die Hände vor der Brust.
„Ich respektiere dich. Das ist mehr, als die meisten je kriegen.“
Ein Dorf zog vorbei. Vier Häuser, zwei Laternen, ein schwarzer Hund auf einer Treppe.
Beate fuhr weiter.
„Und was jetzt?“
Ihre Stimme war ruhig. Geschäftsmäßig fast.
Alexander zuckte mit den Schultern.
„Jetzt bringst du mich nach Hause. Und dann… sehen wir weiter.“
Stille.
Dann, leise, von Beate:
„Und wenn ich einfach woanders hinfahre?“
Alexander antwortete ohne zu zögern:
„Dann fahre ich mit.“
Ein letzter Blick zwischen ihnen.
Kurz. Unentschieden. Offen.
Und dann war wieder nur die Straße da.
Ein Streifen aus Licht und Dunkelheit, geteilt von zwei Menschen, die sich nicht trauten, einander zu vertrauen – aber auch nicht, es zu lassen.
Noch 89 Kilometer bis München.
Und jede Sekunde ein weiterer Schritt tiefer in ein Spiel, das längst begonnen hatte.
Ohne Regeln.
Ohne Ziel.
Aber mit dem Versprechen:
Einer bleibt übrig.
Vielleicht.
Die Straße lag wie ausgeblutet vor ihnen – keine Lichter, kein Gegenverkehr, nur Asphalt und Schatten.
Beate lenkte mit ruhiger Hand, ihr Blick war geradeaus gerichtet, aber ihre Stimme kam ohne Ankündigung.
„Nur, damit du’s weißt … Ich will dich immer noch umbringen.“
Alexander blinzelte. Nicht überrascht.
Sein Kopf drehte sich langsam zu ihr, als wolle er prüfen, ob sie es ernst meinte.
Dann ein leises, müdes Lächeln – keins, das die Lippen wirklich erreichte.
„Ich dachte, wir hätten dieses Spiel hinter uns gelassen.“
„Haben wir nicht. Du hast mir was erzählt. Ich hab zugehört. Mehr nicht.“
Eine Pause. Keine Bewegung im Wagen. Kein Ruck, kein Zucken. Nur die Straße, die sich durch die Nacht fraß.
„Na schön“, sagte Alexander schließlich leise.
„Dann lass uns aufhören mit dem Theater.“
Er richtete sich im Sitz auf.
„Ich sag dir jetzt, wer ich bin. Was ich bin. Und du kannst jederzeit anhalten. Aussteigen. Oder die Polizei rufen. Oder mir die Kehle durchschneiden. Ganz, wie du willst.“
Beate schwieg. Ihre Finger lagen fester am Lenkrad.
„Ich war sechs, als ich begriffen hab, dass der Mensch in der Nahrungskette nicht unbedingt oben steht.“
Er sah aus dem Fenster, als sähe er die Vergangenheit vorbeiziehen.
„Drei Mädchen. Älter als ich. Sie haben mich in den Schweinestall gesperrt. Nur aus Spaß. Haben mich ‚Ali‘ genannt, so wie später niemand mehr.
Sie haben gelacht, als sie die Tür zugeschlagen haben.
Drinnen war es dunkel. Warm. Die Schweine … riechen dich, wenn du Angst hast. Sie schubsen dich, reiben sich an dir wie Schatten mit Atem.“
Er schloss die Augen für einen Moment, als wäre das Sprechen selbst eine Art Rückfall.
„Ich hab nicht geschrien. Nicht lange. Irgendwann war klar, dass keiner kommt.
Und als sie mich endlich rausgelassen haben – oder besser: als mich ein Landwirt fand – war ich ein anderer.“
Beate sagte nichts. Keine Fragen. Kein Urteil. Sie ließ ihn reden – und das reichte.
„Zwei Jahre später … war da wieder ein Mädchen. Clara. Sie stand auf der Leiter, ich stand unten.
Und ich hab sie einfach runtergezogen.“
Seine Stimme war nüchtern, fast sachlich.
„Ich wusste nicht, was passiert, ehrlich nicht.
Aber als sie fiel – als sie einfach da lag, ganz verdreht und mit offenen Augen –
da hab ich sie genommen, hinter das Haus gezogen. In den Stall. Dorthin, wo es riecht wie … Lösung.“
Beate schluckte leise.
Alexander fuhr fort, ohne Pathos.
„Ich dachte, sie wäre am nächsten Tag noch da. Ich dachte, ich hätte sie begraben müssen, irgendwas tun.
Aber sie war weg. Ganz weg. Keine Spur. Kein Körper.
Und da wusste ich: Die Schweine hatten alles erledigt.“
Er atmete langsam aus. Leise.
„Keine Beweise. Keine Zeugen. Kein Rückweg.“
Eine lange Stille folgte.
Dann sprach er weiter – mit etwas, das fast an Bitterkeit erinnerte.
„Ich hab später versucht, normal zu sein.
Eine Frau. Ein Haus. Versucht, Liebe zuzulassen. Aber sie haben mich wieder ausgelacht. Mich getestet. Gedemütigt.
Und irgendwann … war es wieder da. Dieses Geräusch im Kopf.
Wie eine Kette, die straff gezogen wird.“
Er fuhr sich durchs Haar.
„Ich hab nie gejagt. Ich hab nur reagiert.
Sie haben immer geglaubt, sie hätten mich im Griff – bis ich sie ansah und wusste: Jetzt nicht mehr.“
Beate fuhr weiter, als wäre sie allein auf dieser Welt.
Der Wagen war still, als hätte er mitgehört und begriffen.
Alexander lehnte sich zurück, die Stimme plötzlich fast sanft.
„Du warst anders.
An der Raststätte – da saßt du da, mit diesem Blick, der sagte: Ich brauche niemanden.
Ich wollte dich töten. Natürlich. Es war … Routine.
Aber dann hast du mich angesehen. Ohne Angst. Ohne Bitte.“
Ein kurzes Schweigen.
„Und da hab ich’s gelassen.“
Beate blickte nicht zu ihm. Aber ihre Finger lösten sich langsam vom verkrampften Griff am Lenkrad.
„Ich erzähl dir das nicht, weil ich will, dass du mich verstehst. Oder verzeihst.
Ich erzähl’s dir, damit du weißt, dass ich dich nicht brauche, um ganz zu sein.
Aber ich will, dass du bleibst.“
Beate sagte leise:
„Und wenn ich trotzdem will, dass du stirbst?“
Alexander antwortete ruhig.
„Dann halt an. Und tu es.“
Stille.
Dann sagte Beate:
„Vielleicht.
Aber nicht heute Nacht.“
Der Wagen fuhr weiter.
Noch 26 Kilometer bis München.
Zwei Schatten auf Ledersitzen.
Kein Ziel. Keine Sicherheit. Nur eine Wahrheit, die in der Dunkelheit saß –
zwischen Herz und Abgrund.
*
Es war ein Sommertag, einer von diesen, an denen das Licht zu hell war und alles friedlich hätte sein können.
Das Haus lag wie ausgestorben in der Mittagshitze.
Die Luft roch nach trockenem Gras und irgendetwas, das Beate nie benennen konnte – etwas Altmetallisches, das immer aus der Garage kam, wenn ihr Vater wieder stundenlang darin arbeitete.
Sie war allein.
Ihre Mutter war im Schlafzimmer, wie so oft.
Still. Dünn.
Ein Körper in Zeitlupe.
Damals hatte Beate noch nicht verstanden, was „Depression“ war.
Sie wusste nur: Wenn die Tür zu war, durfte man nicht stören. Auch wenn der Kühlschrank leer war. Auch wenn es blutete.
An diesem Tag saß sie in der Ecke des kleinen Schuppens im Garten, mit dem Rücken an einer der alten, bemoosten Wände.
Die Holzlatten waren warm, die Luft stickig.
Sie hatte sich dort versteckt.
Wieder einmal.
Sie hörte Stimmen.
Männerstimmen.
Lachen.
Schritte auf Kies.
Dann den Ruf ihres Bruders:
„Beaaaate! Komm doch mal!“
Sie antwortete nicht.
Aber sie wusste: Wenn sie nicht ging, würde er sie holen.
Er war neunzehn. Groß.
Und nicht allein.
Als sie herauskam, standen die beiden Jungen schon da.
Der Freund ihres Bruders grinste sie an, mit diesem abgekauten Zahnstocher im Mundwinkel, den er nie wegnahm.
Er hatte ihr einmal einen toten Vogel gezeigt, den er mit einer Zigarette ausgebrannt hatte.
„Du bist doch schon groß, oder?“ sagte er.
Und ihr Bruder schob sie ein Stück nach vorn, nicht grob, aber deutlich.
Beate verstand noch nicht, was kommen würde.
Aber sie wusste, wie sich Ohnmacht anfühlt.
Später, in der Badewanne.
Sie schrubbte sich, bis die Haut rot wurde.
Ihre Mutter kam nicht.
Ihr Vater war längst irgendwo betrunken eingeschlafen.
Das Haus war still.
Sie betrachtete ihre Hände, ihre Arme, ihre Knie.
Alles war noch da – aber sie war nicht mehr dieselbe.
Das Wasser färbte sich leicht rosa.
Sie hörte ihre eigene Stimme kaum, als sie sich murmelnd selbst versprach:
„Das passiert mir nie wieder.“
Nicht weil es nicht mehr möglich war.
Sondern, weil sie ab jetzt lernen würde, wie man sich schützt.
Systematisch. Berechnend. Eiskalt.
In der folgenden Woche beobachtete sie ihren Bruder genau.
Wie er ging.
Wie er redete.
Worauf er reagierte.
Wie wenig es brauchte, ihn glauben zu lassen, dass er die Kontrolle hatte.
Mit 15 wusste sie:
Man muss niemandem wehtun, wenn man klüger ist.
Und wenn man jemanden verletzen will, reicht ein leises Wort im richtigen Moment.
Mit 16 hatte sie ein altes Kräuterbuch gefunden.
Sie lernte auswendig, welche Pflanzen Herzrasen verursachen.
Welche lähmen.
Welche beruhigen – und welche töten können.
Sie lernte, wie Vertrauen aussieht.
Und wie leicht es sich fälschen lässt.
Beate Wolkner wurde nie wieder ein Opfer.
Nicht, weil die Welt besser wurde.
Sondern, weil sie es nie wieder zuließ.
Und wenn sie später jemandem die Hand reichte, dann war es wie eine Einladung in einen Spiegelkorridor:
Man sah sich selbst –
bis es zu spät war, zu erkennen, dass man längst nicht mehr lebte.
*
Beate war sechzehn, als ihre Mutter starb.
Nicht plötzlich.
Nicht laut.
Nicht sichtbar.
Es war ein Samstag.
Sie wusste das, weil es im Radio die übliche Morgensendung gab, diese grässlich gut gelaunten Stimmen, die versuchten, der Welt irgendetwas Frisches einzubläuen.
Ihre Mutter hatte das Radio immer leise laufen lassen.
Wenn es still war, fiel es mehr auf als der Ton.
Beate stand in der Küche, wusch ihren Becher aus, schaltete die Kaffeemaschine für den Vater an – obwohl er wahrscheinlich längst schon wieder betrunken in der Garage war.
Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen.
Wie so oft.
Aber an diesem Morgen war es anders.
Nicht ruhiger –
sondern endgültiger.
Beate klopfte.
Einmal.
Zweimal.
Keine Antwort.
„Mama?“
Nichts.
Sie drückte die Tür auf.
Langsam.
Fast lautlos.
Im Zimmer roch es nach Schlaf und Alkohol.
Der Vorhang war halb zugezogen, das Licht diffus.
Ihre Mutter saß im Sessel am Fenster.
Im Hausmantel.
Die Haare ungewaschen, das Gesicht grau unter der fahlen Haut.
Auf dem Boden lagen Tablettenverpackungen.
Zwei Weingläser – beide leer.
Und ein zerknüllter Briefumschlag, der aussah, als wäre er nie geöffnet worden.
Beate trat näher.
Ein Schritt. Noch einer.
„Mama?“
Der Kopf ihrer Mutter lehnte gegen die Polsterung.
Die Augen offen – aber leer.
Ein Ausdruck, den Beate nie vergessen würde:
Nicht erschrocken. Nicht traurig.
Sondern abwesend.
Als hätte der Körper den Tod längst eingeladen, lange bevor das Herz aufhörte zu schlagen.
Beate wusste sofort, dass sie tot war.
Sie wusste es, weil in diesem Moment kein einziger Gedanke kam.
Kein Schrei. Keine Träne. Kein Impuls, sie zu rütteln.
Nur ein stilles Einfrieren.
Sie trat zurück.
Zog die Tür wieder zu.
Ging in ihr Zimmer.
Setzte sich auf ihr Bett.
Erst nach fünf Minuten griff sie zum Hörer.
„Notruf. Was kann ich für Sie tun?“
Beate sagte leise:
„Meine Mutter ist tot.“
Beate saß auf der untersten Stufe der Treppe, als der Krankenwagen kam.
Dann der Notarzt.
Dann zwei Männer mit einem schwarzen Sack.
Sie sagte nichts.
Gab Auskunft, wenn man sie fragte.
Der Nachname, die Adresse, das Alter ihrer Mutter.
Dass sie depressiv war.
Dass niemand sonst im Haus war.
Noch nicht.
Um 10:34 Uhr kam ihr Vater durch die Hintertür – mit langsamem Schritt und glasigem Blick, als wäre er aus einem Nebel gestiegen.
Die Bierflasche in der Hand war halb leer, die Stimme heiser, als er die Sanitäter sah.
„Was… was ist denn hier los?“
Beate sagte ruhig:
„Mama ist tot.“
Er starrte sie an.
Dann auf den Flur.
Dann auf die Männer mit dem Sack.
„Was? Nein… Das… das kann nicht sein…“
Er taumelte in den Flur, rief ihren Namen, laut, lallend, ein zorniges Echo aus zu spätem Bedauern.
Doch die Antwort war längst verstummt.
Später, am Küchentisch, legte er den Kopf in die Hände und weinte.
Laut. Schluchzend.
Als ginge es um ihn.
Beate beobachtete ihn.
Kein Mitgefühl, keine Wut.
Nur Leere.
Sie dachte an den Brief.
Den zerknüllten Umschlag hatte sie in einem unbeobachteten Moment eingesteckt.
Niemand hatte ihn gesehen.
Niemand fragte danach.
Sie bewahrte ihn auf –
aber sie öffnete ihn nie.
Nicht einmal einen Spalt.
Denn was auch darin gestanden hätte –
es hätte nichts geändert.
Zwei Wochen später kam ihr Bruder.
Er war nicht zur Beerdigung gekommen, sondern erst am Tag danach.
Er roch nach kaltem Rauch und Benzin.
„Ich hab gehört, sie ist gestorben,“ sagte er in der Tür, als wäre es eine Feststellung über das Wetter.
Beate nickte nur.
Er umarmte sie nicht.
Er fragte nicht, wie es ihr ging.
Stattdessen:
„Gibt’s was zu erben?“
Beate ging an ihm vorbei, ohne etwas zu sagen.
Danach wurde es still.
Ihr Vater trank mehr, sprach weniger.
Manchmal schlief er im Wohnzimmer ein, mit laufendem Fernseher und dem Gurt seiner Hose noch halb geöffnet.
Der Kühlschrank war leer, außer Bier.
Die Post sammelte sich auf dem Küchentisch.
Beate machte weiter.
Zur Schule.
Zurück.
Hausaufgaben.
Kochen, wenn es sein musste.
Reden – nur noch mit sich selbst.
Sie wurde darin gut, Dinge zu verschweigen.
Zu funktionieren.
Zu vergessen.
Aber sie vergaß nichts.
*
Es war ein Freitagabend, Anfang Juni.
Der Himmel hing bleiern über dem Dach.
Beate war allein zu Hause, als es an der Tür klingelte.
Ihr Bruder – mit seinem Freund.
Dem mit dem Zahnstocher.
Dem mit dem Grinsen, das zu lange auf dem Gesicht blieb.
„Komm schon, Kleine. Ist doch Wochenende“, sagte er, während er sich wie selbstverständlich an ihr vorbeischob.
Er roch nach Schweiß, süßlichem Rauch, billigem Bier. Seine Pupillen zu groß. Sein Blick zu schnell.
Der Bruder sagte nicht viel.
Er ließ sich in den alten Sessel sinken, die Augen halb geschlossen, schon jetzt kaum noch ansprechbar.
Der Freund ließ sich Zeit.
Stand im Flur, sah sich um.
Dann ließ er den Blick über sie gleiten – langsam, prüfend, wie ein Jäger über vertrautes Gelände.
„Immer noch hier?“, sagte er, als wäre das eine Überraschung.
„Dachte, du wärst längst in der Stadt, bei den feinen Leuten. Aber weißt du…“ – er trat näher – „manche Dinge sollte man nicht so schnell vergessen. Die guten alten Zeiten zum Beispiel.“
Beate schwieg.
Die Tür stand noch offen. Der Abend war zu warm. Zu schwer.
„Du bist ganz schön erwachsen geworden“, fuhr er fort.
„Wirklich. Ich mein… ich erinnere mich noch, als du noch mit den Knien unter’m Tisch gesessen hast. Aber jetzt…“
Er pfiff leise durch die Zähne.
„Jetzt würd ich sagen: Du könntest ganz andere Sachen unter’m Tisch machen.“
Beate sah ihn lange an.
Dann schloss sie die Tür.
Langsam.
„Ihr wollt was trinken?“, fragte sie tonlos.
„Na klar.“
Der Freund grinste.
„Am liebsten was Heißes. Etwas, das einen wach macht.“
Sein Blick blieb auf ihrem Mund hängen.
Beate nickte und ging in die Küche.
Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss.
Der Freund legte seine Füße auf den Couchtisch.
Sie kochte Tee.
Sie hatte lange überlegt, ob es eines Tages so kommen würde.
Nicht aus Rache.
Nicht aus Hass.
Sondern, weil sie irgendwann genug wusste.
Digitalis purpurea.
Sie hatte es getrocknet.
Drei Blätter reichen.
Ein Sud daraus – bitter, aber nicht tödlich im Geschmack.
Im falschen Körper aber tödlich still.
Sie brachte zwei Tassen ins Wohnzimmer.
„Besser als jeder doppelte Espresso.“
Der Freund griff zuerst zu, trank hastig.
„Du bist gar nicht mal so unbrauchbar, wenn du willst“, grinste er und leckte sich die Lippen.
Dann ein Zug aus der Zigarette.
Noch ein Schluck.
Noch ein Blick, zu lange auf ihrer Brust.
Der Bruder hatte seine Tasse nicht angerührt.
Er war schon zu weit weg.
Zwanzig Minuten später rutschte der Freund langsam vom Sofa.
Nicht dramatisch.
Nicht mit einem Schrei.
Ein langsames Nachgeben.
Die Knie weich.
Die Augen irritiert.
Die Zunge dick.
„Was… was ist das…?“ murmelte er.
Beate stand im Türrahmen.
Die Arme verschränkt.
Die Stirn ruhig.
„Du hast dich verschluckt.“
Ihr Ton war glatt wie Glas.
Dann ging sie zu ihm, legte ihm die Hand auf die Stirn.
Kühl.
Ein letzter Blick.
Er starb, ohne es zu merken.
Der Bruder lag benommen auf dem Sofa.
High.
Schlafend.
Hilflos.
Sie sah ihn an. Lange.
Dann wählte sie den Notruf.
„Ein Notfall. Eine Überdosis. Ein Toter, einer bewusstlos.“
Sie nannte die Adresse.
Sie legte auf.
Beate wusch die Tassen ab.
Zwei gingen zu Bruch – sie rutschten ihr nicht aus der Hand, sie ließ sie fallen.
Ein Reflex.
Ein Schnitt an der Fingerkuppe.
Blut tropfte auf die Spüle.
Sie presste ein Tuch dagegen, starrte in den Abfluss.
„Nie wieder“, sagte sie leise.
Nicht zum ersten Mal.
Aber diesmal klang es nicht nach einem Wunsch.
Sondern wie ein Gelübde.
*
Ein Lichtkegel durchbrach plötzlich die Dunkelheit.
Blau. Dann rot. Dann wieder blau.
Im Rückspiegel zuckte das Leuchten wie ein Herzschlag.
Beate verlangsamte automatisch.
Alexander richtete sich auf. Seine Stimme blieb ruhig.
„Streife.“
Beate fuhr rechts ran.
Langsam. Berechnend.
Die Reifen knirschten auf feuchtem Schotter.
Der Polizeiwagen hielt hinter ihnen, halb auf dem Feldweg.
Zwei Beamte, beide jung, beide müde wirkend, mit diesen Bewegungen, die mehr Routine als Wachsamkeit ausstrahlten.
Beate warf Alexander einen kurzen Seitenblick zu. Kein Wort.
Aber in seinem Gesicht stand: keine Panik. Kein Fluchtreflex.
Nur eine stille Berechnung.
Beate atmete durch, öffnete das Fenster.
Einer der Polizisten trat heran. Die Hand lässig an der Koppel.
Er musterte das Auto, dann Beate, dann Alexander.
Sein Blick lag einen Hauch zu lange auf dem Becher in der Mittelkonsole, dann wanderte er weiter.
„Guten Abend. Allgemeine Fahrzeugkontrolle.“
Beate nickte.
„Natürlich.“
Der Beamte lehnte sich leicht vor.
„Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.“
„Unter der Sonnenblende“, meinte Alexander.
Beate reichte dem Beamten beides wortlos.
Alexander sagte sonst nichts.
Aber sein linker Daumen tippte langsam gegen seinen Oberschenkel – als wollte er die Sekunden zählen.
Der Beamte leuchtete kurz mit der Taschenlampe ins Wageninnere.
„Schicker Wagen. Aston Martin, hm? Nicht gerade das typische Fahrzeug für diese Gegend. Was machen Sie hier draußen um diese Uhrzeit?“
Alexander beugte sich leicht vor.
Seine Stimme war ruhig, freundlich.
Ein Hauch zu freundlich.
„Die A9 ist gesperrt. Unfall, irgendwo hinter Ingolstadt. Wir wurden umgeleitet.“
Der zweite Polizist war inzwischen ans Beifahrerfenster getreten.
Auch er warf einen kurzen Blick hinein, sagte aber nichts.
Beate nickte zur Bestätigung.
„Wir sind auf dem Heimweg nach München. Der Umweg zieht sich.“
„Wo genau kommen Sie her?“
„Aus Görlitz.“
Der erste Beamte schien einen Moment zu überlegen, ob das verdächtig klang.
Dann blätterte er durch die Papiere.
Beates Hände lagen ruhig auf dem Lenkrad.
Aber sie spürte, wie jeder Muskel unter der Haut auf Widerstand eingestellt war.
Alexander hingegen wirkte gelöst.
Der Polizist gab die Papiere zurück.
Sein Blick war nicht misstrauisch, aber auch nicht ganz frei davon.
„Alles klar. Gute Weiterfahrt. Und passen Sie auf, die Landstraße zieht sich.“
Beate lächelte.
„Danke. Tun wir.“
Die Polizisten traten zurück.
Der Wagen rollte an, langsam, wieder hinein in die Nacht.
Der Asphalt rauschte wieder unter den Rädern.
Die Lichter des Polizeiwagens verblassten im Rückspiegel –
blau, dann rot, dann schwarz.
Ein paar Sekunden vergingen. Dann sagte Alexander ruhig, fast beiläufig:
„Das wäre deine Gelegenheit gewesen.“
Beate blickte geradeaus.
„Wofür?“
„Mich zu verraten. Du hättest nur die Tür öffnen müssen. Oder um Hilfe bitten.“
Sie schwieg. Der Motor schnurrte leise. Die Nacht legte sich wieder wie ein Tuch über alles.
„Hast du’s in Erwägung gezogen?“
Beate antwortete nicht sofort.
Dann:
„Ich hab’s durchgespielt. Gedanklich.“
„Und?“
„Zu viele Unbekannte. Zu wenig Vertrauen in die Beamten. Und zu viel in dich.“
Ein schmaler Moment Stille. Dann sah sie ihn kurz an.
„Und weil ich noch nicht wusste, ob ich dich noch umbringen möchte.“
Er lächelte schmal.
„Ich bin kein guter Mensch, Alexander. Ich wollte es vielleicht mal sein. Aber das ist lange her.“
Ihre Stimme war fest, aber nicht laut.
„Was ich dir eben gesagt habe – dass ich dich vielleicht immer noch töten will – das war kein Spiel.“
Er nickte. Keine Reaktion im Gesicht. Aber im Nacken ein leichtes Neigen, als höre er ein Geständnis, das er schon kannte.
Sie fuhr fort:
„Ich hasse Männer wie dich. Weil ihr glaubt, alles durchschauen zu können. Weil ihr Menschen zu Objekten macht. Zu Variablen in eurem Spiel.“
Ihre Hände blieben ruhig am Steuer.
„Und gleichzeitig…“
Sie zögerte.
„…respektiere ich dich. Vielleicht mehr, als ich sollte.“
Alexander blickte zur Seite, das Profil der Frau neben ihm eindringlich anschauend.
„Weil ich ehrlich war?“
„Weil du bist, wer du bist. Ohne zu blenden. Ohne Mitleid einzufordern.“
Sie sah ihn an, kurz.
„Und weil du mir ähnlich bist. Im Kern.“
Die Straße wurde schmaler. Ein kurzes Schlagloch, das sie beide spürten, aber keiner kommentierte.
„Willst du wissen, warum ich dich nicht verraten habe?“ fragte sie leise.
Er sagte nichts.
„Weil ich dich verstehe. Nicht alles. Aber das Töten. Und das Davor. Das, was es braucht, um so zu werden.“
Sie fuhr ein paar Meter weiter, ehe sie weitersprach:
„Ich weiß, wie es ist, eingesperrt zu werden. Von Menschen, die lachen, während du schreist.“
Alexander schwieg.
Beate atmete einmal durch, langsam. Dann sagte sie:
„Ich habe mit acht gelernt, wie lautlos Gewalt sein kann. Dass Schreien nicht hilft, wenn keiner hinhört. Und dass der Körper irgendwann aufhört, sich zu wehren, wenn die Seele längst verschwunden ist.“
Ein Windhauch fegte über das Auto, ließ die Bäume am Straßenrand zittern.
„Ich war nicht in einem Stall“, sagte sie. „Ich war im Kinderzimmer meines Bruders. Und sein Freund hatte die Tür abgeschlossen.“
Ein einzelner Satz. Klar. Trocken. Kein Zittern in der Stimme. Kein Pathos.
Alexander sah sie nicht an. Aber seine Finger bewegten sich nicht mehr.
Still.
Beate sprach weiter.
„Danach war nichts mehr wie vorher. Ich habe gegessen, funktioniert, geschwiegen. Jahre. Ich dachte, es hört irgendwann auf – das Vibrieren im Schädel. Aber es hörte nie auf. Also habe ich gelernt, es zu lenken.“
Eine Pause.
„Ich wurde leise. Präzise. Ich fing an, Dinge zu kontrollieren. Männer. Situationen. Räume.“
Sie sah ihn nun an. Ganz. Direkt.
„Und irgendwann habe ich gemerkt – ich kann Menschen lesen. Fast alle. Ihre Unsicherheiten, ihren Stolz, ihre Abgründe. Und ich wusste: Ich bin kein Opfer mehr.“
Sie sah wieder auf die Straße.
„Ich wurde… Jägerin. Ich töte Männer. Aber ich hinterlasse keine Spur.“
Stille.
Dann, nach einer Weile, sagte Alexander:
„Wir sind uns ähnlich.“
Beate nickte.
„Vielleicht.“
Eine kurze Pause.
„Kannst du nachts noch schlafen?“
Alexander lächelte nicht.
Nicht diesmal.
„Ich nicht mehr“, sagte er nur.
„Dafür träume ich weniger.“
Und der Wagen fuhr weiter.
Schweigend.
Zwei Menschen, die nicht schlafen, nicht träumen – aber einander zuhören konnten.
*
Alexander war 31, als er Judith traf.
Sie arbeitete als Beraterin für Ernährungstransformation in öffentlichen Einrichtungen. Klug, wach, mit einem Blick, der nicht nur sah, sondern durchbohrte. Und doch war da ein Lächeln in ihr – offen, warm, wie aus einer Welt, die ihn nie erreicht hatte.
Mit Judith war es anders.
Nicht fordernd. Nicht vorsichtig.
Sondern leicht. Leicht genug, dass er vergaß, wie schwer alles vorher gewesen war.
Er erzählte ihr Dinge, die er keinem erzählt hatte.
Nicht über Clara. Aber über den Stall, die Mädchen, das Schweigen seiner Mutter.
Judith hörte nicht nur zu – sie berührte seine Hand danach.
Still. Respektvoll. Ohne Angst.
Er dachte:
Vielleicht kann ein Mensch wirklich neu anfangen, wenn ein anderer ihn ansieht, als wäre das möglich.
In ihrer Wohnung roch es nach grünem Tee und alten Büchern.
Sie lachten. Viel.
Sie fuhren zusammen weg.
Er dachte, er sei angekommen.
Nach einem Jahr sprachen sie über Kinder.
Judith wollte warten.
Er verstand das.
Nach zwei Jahren begannen die Risse.
Zuerst war es nur ein Tonfall.
Ein Augenrollen, wenn er Dinge zu ausführlich erklärte.
Dann kleine Sticheleien vor anderen.
„Du bist ein bisschen zu… kontrolliert, findest du nicht?“
„Diese Sache mit deinem Schweinezucht-Projekt… klingt irgendwie nach Entschuldigung, nicht nach Vision.“
„Ich hab manchmal das Gefühl, du hast Angst vor echten Gefühlen.“
Er lachte zuerst darüber.
Er wollte kein Mann sein, der empfindlich reagiert.
Er liebte sie. Er würde sie nicht verlieren.
Aber es wurde mehr.
Es begann mit Kleinigkeiten.
Judith nahm das Handy häufiger mit ins Bad.
Sie lachte über Nachrichten, ohne den Bildschirm zu zeigen.
Sie roch anders – neue Parfumnoten, nicht ihre, nicht vertraut.
Sie hatte plötzlich „neue Impulse“ von einem „spannenden Kooperationspartner“ – jemand, der „die gleichen Fragen stellt wie ich, Alexander – aber auf Augenhöhe.“
Er fragte nicht.
Er wartete.
Still.
Wie immer.
An einem Samstagmorgen sagte sie, dass sie spontan für zwei Tage nach Berlin müsse.
„Fachgespräche. Ernährungswandel. Nichts Persönliches.“
Sie kam mit glänzenden Augen zurück.
Sagte, sie sei inspiriert.
Aber küsste ihn nicht zur Begrüßung.
Danach war sie oft müde.
Reizbar.
Ihr Blick ging durch ihn hindurch, als säße er längst nicht mehr da.
Er begann früher aufzustehen.
Kochte ihr Kaffee, stellte Blumen auf den Tisch, hörte ihr geduldig zu, wenn sie von Start-up-Modellen und neuen Denkern schwärmte, die man „unbedingt ernst nehmen sollte“.
Sie sprach mit leuchtenden Augen – aber nie über ihn.
Und dann, eines Abends:
Er kam früher nach Hause.
Der Flur roch nach fremdem Rasierwasser.
Er fragte nicht.
Er ging in den Garten. Goss die Kräuter.
Wie jeden Dienstag.
Es war ein Dienstag, als es passierte.
Als er das Haus betrat, war Judith bereits angezogen.
Schlicht, klar, schwarz.
Zwei große, dunkelblaue Koffer standen neben der Tür.
Sie sah ihn an, als hätte sie gewartet.
Nicht nervös. Nicht aufgewühlt.
Bereit.
„Ich gehe,“ sagte sie.
Er blieb stehen.
Zwei Schritte entfernt.
Die Türklinke noch in der Hand.
„Du gehst… wohin?“
„Zu ihm.“
Er antwortete nicht.
Judith sah ihn an – lange. Dann sagte sie mit einer Kälte, die nicht laut sein musste:
„Glaubst du wirklich, ich hätte den Rest meines Lebens mit einem Schweinebauern verbringen wollen?“
Er blinzelte.
Sie trat einen Schritt näher.
„Du bist kein Mann, Alexander. Du bist ein Gefäß. Ein schweigender Behälter voller Instinkt und Ordnung. Und Langeweile.“
Pause.
„Ich brauche jemanden, der mir ebenbürtig ist. Der mich fordert. Der denken kann. Nicht einer, der Fleisch etikettiert und meint, das sei Ethik.“
Er atmete ruhig.
Judiths Stimme wurde leiser, fast mild:
„Es war schön. Für eine Weile. Du warst… sicher. Aber ich will nicht sicher. Ich will lebendig sein.“
Dann hob sie einen Koffergriff.
„Mach’s gut.“
Sie öffnete die Tür.
Ohne Wut.
Ohne Angst.
Ohne sich noch einmal umzudrehen.
Alexander stand im Flur.
Die Sonne fiel durch das Milchglas.
Es war still.
Im Stall grunzten die Schweine.
Reglos.
Wartend.
*
Die Straße lag schmal und schwarz vor ihnen.
Die Scheinwerfer schnitten einen Korridor ins Dunkel, der nie enden wollte.
Der Polizeikontrolle folgte kurze Zeit Schweigen. Kein Wort. Kein Blick.
Nur das Surren der Reifen.
Beate fuhr konzentriert, ruhig. Ihre Hände lagen so entspannt am Lenkrad, als hätten sie längst vergessen, dass sie es kontrollieren musste.
Alexander war nicht entspannt.
Er wirkte ruhig, ja. Aber unter seiner Haltung lag etwas, das wie Warten war.
Sein linker Zeigefinger trommelte unhörbar auf die Lehne der Tür.
Fünf Schläge. Pause. Drei Schläge. Wieder Pause.
Ein Rhythmus, den nur er kannte.
Dann, leise, fast beiläufig:
„Lass uns einen Abstecher machen.“
Beate sah ihn kurz an.
„Wohin?“
„Ich kenne ein Restaurant. Nicht weit von hier.“
„Um diese Uhrzeit?“
Er nickte. „Hat bis drei auf.“
„Du bist hungrig?“
„Ein bisschen.“
Er schwieg kurz, sah hinaus in die Dunkelheit, als würde er dort etwas sehen, was sie nicht sehen konnte.
„Und ich möchte…“ – er drehte den Kopf zu ihr, sein Blick hell, klar – „…nicht die Nacht beenden, bevor ich etwas gegessen habe, das du nicht gekocht hast.“
Beate lächelte schmal, aber ohne Wärme.
„Immer noch Angst vor Gift?“
„Vorsicht ist keine Angst,“ erwiderte er ruhig.
„Ich hätte dich schon längst töten können.“
„Ich weiß.“
Er sah wieder nach vorn.
„Aber du bist geduldig. Und Geduld ist gefährlich.“
Eine Pause.
Nur das leise Knacken des Armaturenbretts im Temperaturwechsel.
„Also Restaurant,“ sagte sie schließlich.
„Ja.“
„Und wenn dort jemand erkennt, wer du bist?“
Seine Mundwinkel zuckten.
„Ich habe aufgehört, mir darüber Sorgen zu machen.“
„Das heißt?“
„Wer mich erkennt, lebt entweder weiter – oder nicht mehr.“
Sie bog ab, folgte seiner knappen Wegbeschreibung.
Das Navi schwieg.
Die Straßen wurden noch schmaler, die Felder weiter, das Schwarz dichter.
Nach fünf Minuten tauchte ein schwaches Licht auf.
Eine einzelne Laterne, träge flackernd, daneben ein altes Holzschild:
„Gasthaus Kranzberger Hof“
Das Gebäude lag zurückgesetzt, halb verborgen hinter Kastanien.
Die Fenster dunkel bis auf eins.
In der Ferne stand ein einzelner Transporter, Motor aus, aber noch warm – man sah den Dampf aus dem Auspuff ziehen.
Beate parkte. Schaltete den Motor aus.
„Sieht einladend aus.“
„Das tut es nie,“ sagte Alexander. „Die besten Orte tun das nicht.“
Sie gingen hinein.
Der Gastraum war klein, warm, fast stickig.
Ein Geruch aus kaltem Rauch, altem Fett und Kaffee, der seit Stunden auf der Platte stand.
An der Theke saß ein Mann mit orangefarbener Warnjacke, Kopf gesenkt über sein Handy.
Hinter der Bar eine Frau Mitte fünfzig, schmale Gestalt, rote Haare zu einem Zopf gebunden.
Sie nickte ihnen knapp zu, ohne Lächeln.
„Noch was zu essen?“ fragte sie, ohne aufzusehen.
„Zwei Mal,“ sagte Alexander.
„Warmes dauert.“
„Wir warten.“
Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke.
Beate zog die Jacke nicht aus.
Alexander legte die Hände auf die Tischkante, locker, aber sein Blick wanderte permanent. Fenster. Tür. Theke. Hintertür.
Nicht auffällig.
Automatisch.
„Du hast wirklich Angst vor Gift,“ sagte Beate leise, ohne ihn anzusehen.
„Ich habe Erfahrung mit Dingen, die man nicht kommen sieht.“
„Wie mit Judith?“
Ein kurzes Zucken in seinem Gesicht, dann wieder glatt.
„Judith war kein Gift,“ sagte er.
Pause.
„Sie war die Erinnerung daran, dass Menschen immer anders sind, als sie wirken.“
Beate neigte leicht den Kopf.
„Und ich?“
„Dich habe ich noch nicht entschieden.“
Der Wirt brachte zwei Teller, dampfend, nichts Besonderes: Gulasch, Brot, Gurke.
Alexander schob seinen Teller einen Zentimeter zur Seite.
„Iss zuerst,“ sagte er leise.
Beate hob die Brauen.
„Ernsthaft?“
„Ich vertraue dir, Beate. Aber nicht genug, um das zu beweisen.“
Sie nahm die Gabel, stach in das Fleisch, kaute langsam, absichtlich.
Dann stellte sie die Gabel hin.
„Leb noch?“ fragte sie trocken.
„Wir reden, während wir essen,“ sagte Alexander.
„Und über was?“
„Über Vertrauen.“
Der Gastraum war fast leer, nur vereinzeltes Stimmenmurmeln und das ferne Klirren von Gläsern. Das Licht fiel weich über dunkles Holz und schwere Stoffe.
Alexander drehte sein Weinglas langsam zwischen Daumen und Zeigefinger, ohne zu trinken.
Dann hob er den Blick zu Beate.
„Wann hast du das letzte Mal…“ – er hielt kurz inne, suchte nach dem richtigen Wort – „…ein besonders schwieriges Problem gelöst?“
Beate ließ die Frage einen Atemzug lang zwischen ihnen hängen.
Dann hob sie leicht die Schultern, als sei das keine große Sache.
„Kommt drauf an, wie man ‚schwierig‘ definiert.“
„Lass mich raten,“ sagte Alexander leise. „Es war ein Männerproblem.“
Sie lächelte kaum merklich, ein Zug um den Mund, der weder Zustimmung noch Widerspruch war.
„Sagen wir“, begann sie und nahm einen Schluck Espresso, „ich habe kürzlich eine Geschichte gelesen.“
Sie sprach betont beiläufig, so dass jeder am Nebentisch glauben musste, sie sprächen über Literatur.
„In dieser Geschichte ging es um eine Frau. Intelligent, erfolgreich, kontrolliert. Sie trifft einen Mann, nennen wir ihn Martin. Elegant, charmant, rhetorisch geschult.“
„Und verheiratet,“ ergänzte Alexander tonlos.
Beate nickte langsam.
„Sehr verheiratet. Zwei Kinder. Neun und zwölf.“
Sie drehte die Espressotasse zwischen den Fingern, als müsse sie das Porzellan prüfen.
„In der Geschichte stand nichts von einem schlechten Ehemann. Ganz im Gegenteil – er war loyal, nach außen hin. Makellos. Ein Vorbild, der perfekte Familienvater.“
Alexander lehnte sich zurück, ließ sie reden.
„Nur…“ – sie machte eine kurze Pause – „…manchmal schreiben Menschen ihre Geschichten auf zwei Papieren. Eins fürs Publikum. Eins für sich selbst.“
Er verzog keine Miene, aber seine Augen blieben fest auf ihr.
„Und das zweite Papier?“ fragte er leise.
Beate sah ihn an, ungerührt.
„Martin liebte das Spiel. Fremde Hotels, diskrete Restaurants, Nummern, die nicht gespeichert wurden. Seine Frau ahnte nichts. Und irgendwann…“ – sie nahm einen weiteren Schluck – „…traf er die falsche Frau.“
Alexander sagte nichts.
Das Schweigen ließ ihre Worte lauter wirken.
„Die Frau in der Geschichte hatte Regeln,“ fuhr Beate fort, „sehr klare Regeln. Keine Kinder, keine Familien, keine Unschuldigen. Wer ehrlich war, konnte tun, was er wollte. Aber wer andere für dumm hielt, wer ihre Welt zerstörte, ohne mit der Wimper zu zucken…“
Sie hob langsam den Blick und sah ihm direkt in die Augen.
„…dessen Kapitel endete schneller, als er ahnte.“
Alexander stellte sein Glas ab.
„Interessanter Krimi,“ sagte er leise.
„Sehr,“ erwiderte Beate. „Die Autorin hat es verstanden, Spannung zu erzeugen.“
Eine winzige Pause, dann fügte sie fast beiläufig hinzu:
„Und am Ende war kein Blut. Kein Aufsehen. Kein Skandal. Nur… Stille.“
Alexander ließ seine Fingerspitzen gegen das Glas tippen, als zählte er unsichtbare Sekunden.
„Die Frau in der Geschichte…“ – er sprach langsam, beinahe zögerlich – „…kam sie damit klar?“
Beate hielt seinem Blick stand, ihre Stimme ruhig, fast weich:
„Manche Dinge erledigt man, und dann existieren sie nicht mehr. Nicht außen. Nicht innen.“
Ein Atemzug, dann setzte sie die Tasse ab.
„Sie schläft gut.“
Zwischen ihnen lag jetzt kein Espresso und kein Krimi mehr, sondern eine unausgesprochene Wahrheit, die keiner von beiden kommentierte.
Beate rührte ihren Espresso, ohne zu trinken. Der Löffel tippte sanft an die Porzellanwand, rhythmisch, wie ein leises Metronom.
Dann hob sie den Blick und fragte scheinbar beiläufig:
„Und du? Liest du auch Krimis?“
Alexander ließ sein Weinglas sinken.
Sein Blick wanderte kurz zu ihr, dann über ihre Schulter, als ob er in einer Erinnerung suchte.
„Manchmal,“ sagte er ruhig. „Aber nicht die üblichen.“
„Was heißt das?“
„Ich mag Geschichten, in denen nicht der Mörder gesucht wird, sondern der Grund.“
Er sprach leise, beinahe meditativ.
„Eine davon… geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“
Beate lehnte sich zurück. „Erzähl.“
Alexander nickte kaum merklich, dann begann er mit dieser leisen, fast neutralen Stimme, die Beate bereits kannte — der Ton eines Mannes, der sich vom Inhalt seiner Worte distanziert, während er sie akribisch ordnet.
„Im Mittelpunkt steht eine Frau. Nennen wir sie Katharina. Mitte dreißig, gebildet, elegant. Jemand, der sofort auffällt, ohne es nötig zu haben. Sie wirkte kontrolliert, professionell, aber… da war etwas an ihr. Etwas… Lärmendes unter der Oberfläche.“
Er hielt kurz inne. Beate bemerkte, wie er das Glas exakt an dieselbe Stelle zurückstellte, wie er es zuvor gefunden hatte.
„Die Geschichte beschreibt,“ fuhr Alexander fort, „wie diese Katharina mit Menschen spielte. Nicht aufdringlich, sondern beiläufig. Kleine Bewegungen, winzige Gesten. Ein Blick, der zu lange blieb. Ein Lächeln, das mehr versprach, als sie je halten wollte. Sie wusste genau, wie weit sie gehen konnte. Und sie ging immer ein Stück weiter.“
Beate sah ihn unverwandt an.
„Ein manipulativer Charakter?“
„Sagen wir… ein gefährlicher.“
Alexander trank einen Schluck Wasser, atmete einmal tief durch und fuhr fort, diesmal leiser:
„Es gibt eine Szene, die der Autor brillant beschreibt: eine Begegnung in einer Bar, spät nachts, nach einem Vortrag. Katharina bestellt Wein, spielt beiläufig mit dem Stiel des Glases. Sie spricht über Moral, über Verantwortung. Aber zwischen den Zeilen — sie testet Grenzen. Sie genießt es, Macht über einen Raum zu haben. Über Blicke. Über Entscheidungen. Über Menschen.“
Beate senkte das Kinn, ließ den Blick einen Moment in ihre Tasse sinken.
„Und der Protagonist?“ fragte sie schließlich, ruhig.
„Beobachtet,“ sagte Alexander knapp. „Er hört zu. Er sammelt Details. Und er versteht irgendwann: Katharina glaubt, es gibt keine Konsequenzen für das, was sie tut.“
Er beugte sich leicht vor, seine Stimme kaum noch mehr als ein Flüstern:
„Dann kommt die Schlüsselszene. Ein Parkplatz, am Stadtrand. Die Nacht still, kaum Licht. Der Autor beschreibt, wie der Protagonist wartet. Kein Warten im klassischen Sinn, sondern… Atmen. Hören. Abpassen, wann der Lärm in Katharinas Kopf so laut geworden ist, dass sie die Stille draußen nicht mehr wahrnimmt.“
Beate hielt inne, atmete leise durch.
„Und dann?“
Alexander blickte sie jetzt an, direkt, sein Gesicht unbewegt, aber in seinen Augen lag etwas Dunkles, Unausgesprochenes.
„Dann,“ sagte er langsam, „gibt es keinen Dialog mehr.“
Eine Pause.
Er ließ die Worte sacken, bevor er weiter sprach:
„Der Autor beschreibt es klinisch. Drei Handbewegungen. Kein Kampf. Kein Schrei. Nur… ein plötzlicher Stillstand.“
Beate starrte ihn an, unbewegt, dann sprach sie leise:
„Saubere Arbeit.“
„Sehr,“ antwortete Alexander, fast sanft. „Der Protagonist wusste, dass Spuren das Ende bedeuten. Er wusste auch… dass es einen Ort gibt, an dem Dinge verschwinden können.“
Beate wusste, was kam, noch bevor er es sagte.
„Ein Stall,“ murmelte sie.
Alexander nickte kaum merklich.
„Schweine sind… effizient,“ sagte er. „Der Autor beschreibt das so sachlich, dass man vergisst, was passiert. Kein Bild, kein Rest, kein Rückweg.“
Dann wurde seine Stimme noch leiser, kaum hörbar über dem Klang der Hintergrundmusik:
„Aber eine Sache… nahm er mit.“
Beate hob eine Braue.
„Was?“
Alexander sah sie an, sein Blick schneidend, unergründlich.
„Das Herz,“ sagte er.
Ein einziger Satz, glatt und tonlos, wie ein klinischer Befund.
Für einen Moment war nichts zu hören außer dem Klicken des Bestecks am Nachbartisch.
Beate lehnte sich zurück, ihr Atem ruhig, aber ihr Blick fest.
„Interessanter Krimi,“ sagte sie schließlich.
„Sehr,“ antwortete Alexander. „Aber nichts für jeden Geschmack.“
Beate lehnte sich zurück, ihr Blick auf Alexander gerichtet, die Finger locker um die Tasse gelegt.
Sie ließ sich Zeit, ehe sie fragte, ruhig, fast beiläufig:
„Warum… hat der Protagonist das Herz mitgenommen?“
Alexander verharrte kurz.
Er atmete langsam aus, als sortiere er Gedanken, bevor er sprach.
Dann legte er die Hände gefaltet vor sich auf den Tisch, beugte sich minimal vor, seine Stimme tiefer, gedämpfter, als gehörte dieser Teil der Geschichte eigentlich nicht erzählt.
„Weil es… der Kern war,“ begann er leise.
„Der Autor beschreibt, dass der Protagonist lange geglaubt hat, er suche Rache, Vergeltung, irgendeine Form von… Ausgleich. Aber das war eine Lüge. Was er suchte, war… Ursprung.“
Er sah kurz zur Seite, als könne er das Bild, das er beschrieb, dort irgendwo sehen.
„In dieser Szene“, fuhr er fort, „liegt Katharina auf dem Boden. Der Parkplatz ist still, die Nacht unbewegt, die Luft riecht nach Regen und warmem Asphalt. Und der Protagonist kniet neben ihr. Er hört sein eigenes Blut schlagen, viel zu laut, als würde sein Körper gegen die Stille anschreien. Und dann…“
Er hielt inne, sah Beate an.
„…dann begreift er, dass alles, was diesen Menschen ausgemacht hat — ihre Überheblichkeit, ihre Verspieltheit, ihre Kontrolle — am Ende nichts weiter war als… ein System, das von einer Pumpe angetrieben wird. Eine Pumpe aus Fleisch. Aus Wärme. Aus Leben.“
Beate legte den Kopf leicht schräg. „Das Herz.“
Alexander nickte, ganz langsam.
„Genau. Es ist nicht Blutdurst. Es ist nicht Trophäe. Es ist… Intimität. Reiner, unverfälschter Ursprung. Der Autor beschreibt, wie er das Messer ansetzt, ganz präzise, fast chirurgisch, nicht wie in diesen groben, effekthascherischen Thrillern. Kein Chaos, keine Hast. Nur absolute Konzentration. Er arbeitet, als würde er einen Knoten lösen.“
Seine Stimme wurde leiser, aber zugleich intensiver, jedes Wort aufgeladen, fast zärtlich.
„Und dann… spürt er es. Zwischen seinen Händen. Warm. Schwer. Pulsierend, auch noch in diesem Moment. Der Autor schreibt, dass der Protagonist in dieser Sekunde alles hört — den Wind, das ferne Tropfen einer Dachrinne, den Herzschlag in seinen Fingern, der noch nicht weiß, dass er aufgehört hat.“
Beate hielt seinen Blick, unbewegt, aber ihre Finger spannten sich leicht um den Porzellanrand.
Alexander sprach weiter, flüsternd, beinahe wie in Trance:
„Für ihn ist es… wie Wahrheit. Als hätte er einen fremden Code in der Hand, der den ganzen Menschen entschlüsselt. Er sieht das Herz an, und zum ersten Mal in dieser Geschichte ist da… Ruhe. Keine Fragen mehr. Keine Widersprüche. Nur der Ursprung.“
Er lehnte sich zurück, der Blick jetzt auf irgendetwas in der Ferne gerichtet, jenseits des Raums.
Dann, nach einer Pause, fast beiläufig:
„Der Autor schreibt, dass der Protagonist es aufbewahrt. Nicht wie eine Trophäe… eher wie ein… Fragment. Ein Teil einer Landkarte, die ihn irgendwann heimführen wird.“
Beate schwieg. Lange.
Sie hörte das Klirren des Bestecks am Nachbartisch, das ferne Summen der Klimaanlage, das Knistern zwischen ihnen.
Dann sagte sie leise:
„Und der Rest… verschwindet.“
„Danach… ist da nur noch Stille“, sagte Alexander eher zu sich selbst.
Ein Satz. Kalt.
Doch in seiner Stimme vibrierte noch der Nachhall dessen, was er zuvor gefühlt hatte.
Beate nahm einen kleinen Schluck Espresso, langsam, ohne die Augen von ihm zu lösen.
„Das ist kein gewöhnlicher Krimi,“ sagte sie leise.
„Nein,“ antwortete Alexander.
Er lächelte kaum merklich.
„Das ist keiner, den man im Regal findet.“
Es hatte angefangen zu regnen.
Das Licht über dem Ausgang flackerte einmal kurz, dann stabilisierte es sich.
Der Wirt kam an den Tisch.
Kein Block, kein Kartenlesegerät – nur ein abgerissenes Stück Notizpapier, mit krakeliger Handschrift beschrieben.
Zwei Gerichte, zwei Getränke, ein kurzer Strich. Kein Logo, keine Formalitäten.
„Passt so?“
Seine Stimme klang rau, wie von vielen kalten Abenden in verrauchten Küchen.
Alexander sah auf die Summe, nickte knapp.
„Passt.“
Er zog ein gefaltetes Bündel Scheine aus der Innentasche. Ohne Eile. Zählte vier, fünf davon ab, legte sie auf das Papier, dann ein, zwei Münzen obendrauf.
„Stimmt so.“
Der Wirt steckte das Geld wortlos ein. Kein Dank, nur ein leichtes Nicken – wie unter Eingeweihten.
Dann ging er zurück hinter den Tresen, verschwand im Halbdunkel der Gastraumecke.
Beate erhob sich zuerst, schob die Stuhllehne mit der Fußspitze zurück. Ihr Blick wanderte durch den Raum, prüfte kurz, ob sich etwas verändert hatte.
Nichts. Nur Leere.
Nur dieser stille Nachklang eines Ortes, der alles sieht und nichts sagt.
Alexander folgte ihr zur Tür.
Er öffnete sie – und sofort schlug ihnen kühle, feuchte Nachtluft entgegen.
Sie traten hinaus.
Beate strich sich reflexartig das Haar aus dem Gesicht. Ihr Blick glitt zum Parkplatz.
Sie blieb stehen.
Zwei Sekunden lang sagte sie nichts.
Dann:
„Wo ist er?“
Alexander trat neben sie.
Sein Blick war ruhig, präzise, mathematisch.
Drei Autos. Keines davon schwarz. Keines davon Aston Martin.
Er ging zwei Schritte vor. Stellte sich auf den feuchten Kies.
Die Stelle, an der der Wagen gestanden hatte, war leer – nicht nur leer, sondern deutlich leerer als der Rest des Platzes.
Der feine, noch feuchte Abruck der Reifen war zu erkennen – weggedreht, nicht rückwärts, sondern seitlich rausgezogen.
Beate trat neben ihn, ging leicht in die Hocke.
„Hier war er. Vor vielleicht zwanzig Minuten.“
Alexander antwortete nicht.
Er ließ den Blick über das Gelände schweifen. Kein offenes Tor. Keine Geräusche. Nur das Plätschern eines nahen Wasserlaufs, verborgen hinter Hecken.
Beate richtete sich auf.
„Kein Abschleppdienst.“
Alexander nickte.
„Kein Zettel. Kein Aufbruch. Keine Notwendigkeit.“
Beate verschränkte die Arme.
„Dann war’s ein Diebstahl.“
„Wegen des Wagens,“ ergänzte Alexander.
Nicht als Frage, sondern als Schlussfolgerung.
Beate sah ihn an.
„Nicht wegen uns?“
„Nein. Die hätten uns beide liegen lassen. Oder gleich mitgenommen. Aber das hier… war ein Profi.“
Ein Moment der Stille.
Der Regen begann wieder – kaum hörbar, fast wie Staub auf der Haut.
„Die hatten keine Ahnung, wer drin saß,“ sagte Beate.
Alexander wandte den Blick nicht vom leeren Parkplatz.
„Oder es war ihnen egal.“
Sie sah zur Straße. Ein dunkler Landweg, dann ein kurzer Hügel, danach nichts.
„Kein Empfang hier draußen.“
Alexander nickte.
„Kein GPS-Tracking. Ich hab’s deaktiviert. Aus Gründen.“
„Vertrauensgründe?“
Er sah sie an. Kurz.
„Sicherheitsgründe.“
Beate atmete durch.
„Also stehen wir jetzt mitten im Nichts, ohne Auto, ohne Netz, bei Nacht.“
„Willkommen im Dazwischen,“ sagte Alexander trocken.
Ein Moment verging.
Dann ging er zurück zur Tür, zog sie einmal, zweimal – verriegelt.
„Keiner mehr da.“
Beate trat neben ihn.
„Was jetzt? Zu Fuß? Trampen?“
„Noch nicht“, sagte Alexander.
Er drehte sich zur Seite, blickte Richtung Waldrand.
„Wir beobachten. Wer einen Aston Martin klaut, der ist entweder schnell… oder bleibt in der Nähe, um sicherzustellen, dass er nicht verfolgt wird.“
„Du meinst, sie beobachten uns?“
Alexander sah sie ernst an.
„Ich meine, wir sind gerade nicht mehr allein.“
Die Nacht wurde stiller. Dicht.
Und irgendwo zwischen den Bäumen knackte ein Zweig – ganz leise, fast freundlich.
Der Kies knirschte unter Alexanders Schritten, als er mit festen Schritten zur Eingangstür zurückging.
Beate blieb einige Meter zurück, die Arme verschränkt, den Blick wach in die Dunkelheit gerichtet.
Alexander rüttelte an der Tür.
Nichts.
Dann beugte er sich leicht vor und hämmerte mit der flachen Hand gegen das Holz – laut, schnell, rhythmisch. Nicht ungeduldig – fordernd.
Keine Reaktion.
Noch einmal. Diesmal mit der Faust.
Der Knall hallte dumpf durch das Treppenhaus hinter der Tür.
Ein Flurlicht ging an.
Dann: Schritte.
Langsam. Zögerlich.
Die Tür öffnete sich einen Spalt.
Der Wirt lugte hinaus – im Unterhemd, graue Jogginghose, ein zerdrücktes Gesicht zwischen Schlaf und schlechtem Gewissen.
„Was…? Was ist denn los?“
Alexander trat einen Schritt näher.
Kein lauter Ton. Keine Gesten.
Nur seine Stimme – tief und sehr ruhig.
„Der Wagen. Weg.“
Der Wirt blinzelte.
„Was? Weg… wie?“
„Gestohlen. Vom Parkplatz. Und ich glaube nicht, dass das hier jeden Tag passiert, oder?“
Der Wirt wich einen halben Schritt zurück.
„Na ja, äh… sowas kommt schon mal vor, also… also ganz selten… aber…“
Alexander unterbrach ihn.
Noch immer keine Lautstärke. Aber die Worte schnitten schärfer.
„Sowas kommt hier nicht einfach mal vor. Das ist ein Aston Martin. Laut. Schwarz. Keine fünf Meter von deinem Fenster entfernt. Und du willst mir erzählen, du hast nichts gehört?“
Der Wirt schluckte.
„Ich… ich hab die Küche aufgeräumt…“
„Ach ja?“ Alexander trat näher, sah ihm direkt in die Augen. „Dann erklär mir, wer hier draußen nachts vorbeifährt. In dieser Gegend. Ohne dass du es mitbekommst.“
Ein kurzer Blick über die Schulter. Beate stand jetzt neben der Tür.
„Ihr kennt euch hier doch alle. Da fährt kein Fremder einfach so vorbei.“
Der Wirt hob beschwichtigend die Hände.
„Ich… ich schwör, ich hab nix damit zu tun. Aber… aber ich frag rum. Ich kenn den Jungen vom Bauhof, der hat früher mal so ’ne Nummer gedreht, und… und dann wär da noch der Oswald, der schraubt an allem, was glänzt. Ich kann morgen… also, ich kann ein paar Leute kontaktieren.“
Alexander ließ die Stille einen Moment stehen.
Der Wirt begann zu schwitzen, obwohl die Nacht kühl war.
Dann – Alexander nickte langsam.
„Du hast bis morgen früh. Wenn du rausfindest, wo der Wagen ist… reden wir nicht weiter drüber.“
„Ja… ja, klar. Ich tu, was ich kann.“
„Das hoffe ich.“
Eine Pause. Der Wirt schien nicht zu wissen, ob er die Tür wieder schließen oder sich ducken sollte.
Beate hob nun erstmals das Wort.
„Und bis dahin?“ Ihre Stimme war messerscharf.
Der Wirt sah sie an, zuckte zusammen wie bei einem zweiten Schuss.
„Natürlich… äh, ihr könnt… also ich hab ein Doppelzimmer oben. Sauber. Kein Luxus, aber warm. Geht aufs Haus. Ehrlich.“
Alexander nickte nur.
„Führ uns hin.“
Der Wirt trat zurück, hielt die Tür weit auf.
„Kommt. Ich zeig euch alles.“
Beate warf Alexander einen schnellen Blick zu, nicht zustimmend, aber kalkulierend.
Dann trat sie ein.
Drinnen war es still, nur das leise Summen eines alten Kühlschranks war zu hören.
Der Wirt ging ihnen voran, barfuß über den kalten Steinboden, stieg langsam die knarrenden Stufen hinauf.
„Zweiter Stock. Da ist Ruhe.“
Alexander folgte schweigend.
Doch in seinen Augen: kein Schlaf. Keine Erschöpfung. Nur Kontrolle.
Und irgendwo draußen, im Dunkel der Landstraße –
eine Maschine. Laut. Schnell.
Und ein Dieb, der nicht wusste, was er gestohlen hatte.
Noch nicht.
Das Zimmer roch nach Holz und Lavendel.
Nicht nach dem echten, frischen Duft, sondern nach Seife aus einem alten Schrank – leicht muffig, wie ein zu oft gewaschener Vorhang in einem Haus, das niemand verlässt.
Die Wände waren in einem matten Creme gestrichen, an der linken hing ein gerahmter Kunstdruck von Monet, schief.
Das Bett: 140 Zentimeter breit, Metallgestell, Lattenrost, der bei jeder Bewegung einmal kurz aufseufzte.
Eine flache Decke, zu dünn für echten Komfort, zwei unterschiedlich große Kopfkissen, das Licht vom Flur fiel milchig durch die geriffelte Glastür.
Alexander stand am Fenster und starrte hinaus in die Nacht.
Sein Blick ging über das schwarze Feld, das Dorf, die gewölbten Silhouetten der Scheunen.
Keine Bewegung. Kein Licht.
Beate saß auf der Bettkante, die Stiefel noch an, den Rücken gerade, die Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt.
Sie sagte nichts.
Lange nicht.
Dann:
„Er wird’s nicht tun.“
Alexander drehte sich nicht um.
„Nein.“
„Er hat Angst, klar. Aber das heißt noch nichts.“
„Angst ist flüchtig. Und er hat kein Motiv, es sich mit den Falschen zu verscherzen.“
„Wir sind die Falschen“, murmelte Beate. „Und trotzdem sind wir nicht von hier.“
Sie zog die Jacke aus, ließ sie neben sich aufs Bett sinken, blieb ansonsten vollständig bekleidet.
Kein Signal. Keine Öffnung. Nur Pragmatismus.
Alexander wandte sich vom Fenster ab, trat in den Raum, ließ sich ohne jedes Zögern auf die freie Hälfte des Betts fallen.
Die Federn quietschten, als wollten sie Einspruch erheben.
Beide starrten nun an die Decke.
Ein schwacher Riss zog sich von der einen Ecke zur anderen, als hätte jemand mit einem Messer am Putz gekratzt.
Eine Fliege summte irgendwo hinter dem Heizkörper.
„Vielleicht hat jemand das Auto gesehen“, sagte Beate leise.
„Jemand, der weiß, was man dafür kriegt.“
„Oder jemand, der einfach zu neugierig war.“
Pause.
„Wenn der Wagen auf dem Schwarzmarkt landet, ist er in drei Tagen in Polen. Oder irgendwo auf einem Flusskahn in Richtung Baltikum.“
Beate nickte kaum sichtbar.
„Dann ist er weg.“
„Nicht unbedingt. Wenn jemand aus der Gegend es war, wird der Wagen noch hier sein. Versteckt. Für ein paar Tage.“
„Und wenn nicht?“
Alexander drehte den Kopf zur Seite.
„Dann fahren wir weiter. Ohne ihn.“
Beate erwiderte seinen Blick für einen Moment, dann sah sie wieder zur Decke.
„Du bist ruhiger, als ich gedacht hätte.“
„Weil ich das hier kenne. Fremde Räume. Enge Betten. Dinge, die fehlen. Es ist wie in einem schlechten Traum, den man schon mal hatte.“
Beate schwieg, dann sagte sie trocken:
„Ich hab mal bei minus sechs Grad auf einem Bahnsteig in Novosibirsk übernachtet. Nach einer Keynote über zivilgesellschaftliche Resilienz. Wegen eines Streiks.“
Alexander zog die Augenbraue hoch.
„Und, wie war’s?“
„Still. Hart. Ehrlich.“
Ein kurzes, kehliges Lachen von ihm, kaum mehr als ein Stoß Luft.
Dann: Stille.
Die Uhr an der Wand tickte zu laut.
Ein alter Sekundenzeiger, der nicht gleichmäßig ging, sondern bei jeder Bewegung kurz zögerte, als müsse er überlegen, ob es sich lohnte, weiterzumachen.
Beate drehte sich zur Seite, das Gesicht dem Fenster zugewandt.
„Wir finden ihn. Oder jemanden, der mehr weiß.“
Alexander lag starr da, die Hände auf der Brust verschränkt.
„Oder der Wirt hat selbst damit zu tun. Der Zeitpunkt war perfekt. Wir kommen rein, essen, erzählen, dass wir von weit her sind, allein, mit teurem Wagen. Und dann verschwindet der exakt in dem Moment, in dem keiner draußen ist.“
Beate: „Dann hätte er uns nicht ein Zimmer angeboten. Er hätte uns die Polizei aufs Dach gehetzt. Oder wäre verschwunden.“
„Es gibt schlechtere Taktiken. Nähe schafft Vertrauen. Vertrauen verhindert Nachfragen.“
Sie schwiegen.
Eine lange Minute.
Dann, fast beiläufig:
„Ich mag das nicht“, sagte Beate.
„Was?“
„Keinen Plan zu haben.“
Alexander nickte langsam.
„Willkommen im Spiel.“
Ein Windstoß rüttelte kurz an den Fensterläden.
Ein leiser Knall, dann wieder Ruhe.
Beide lagen da.
Vollständig angezogen.
Zwei Körper in einem viel zu kleinen Bett, getrennt durch eine unsichtbare Grenze aus Misstrauen und Disziplin.
Keine Romantik. Keine Nähe. Nur Warten.
Und draußen, irgendwo im Nebel der Nacht –
der Klang von Reifen auf Kies.
Oder vielleicht nur ein alter Traum.
Es war noch dunkel im Zimmer, als die Tür aufflog.
Nicht geklopft. Nicht geöffnet.
Aufgerissen.
Mit einem Knall, der durch Mark und Bein ging.
Alexander saß innerhalb einer Sekunde aufrecht im Bett.
Beate warf die Decke zur Seite, ein Bein schon auf dem Boden, als sie inne hielt.
Die Stimme kam wie ein Donnerschlag:
„Stehen bleiben, ihr gottverdammten Wichser! KEINEN verfickten Millimeter!“
Im Türrahmen stand der Wirt.
Schweiß auf der Stirn, das Hemd nur halb zugeknöpft, und in seinen zittrigen Händen:
eine doppelläufige Schrotflinte.
Alt. Aber geladen.
Alexander hob langsam die Hände.
Nicht aus Angst.
Aus Kalkül.
Beate blieb, wo sie war, die Augen verengt, bereit, aber ruhig.
„Was zum Teufel ist hier los?“, fragte Alexander schneidend.
„Schnauze, du Hurensohn! Ich hab die Fresse gestrichen voll! Ihr haltet euch für clever, was?! Gönnt euch’n Tausend-Euro-Anzug, fressen mein teuerstes Rehfilet und dann wollt ihr hier mit ’nem gestohlenen Auto den großen Max markieren?!“
Der Wirt war außer sich.
Die Flinte zuckte leicht.
Nicht aus Absicht, sondern weil seine Schultern bebten.
„Ich weiß jetzt, wem die Karre gehört! Und wer sie geklaut hat! Die Cops haben ihn heut Nacht auf’m Zubringer gestoppt! Wegen ner verfickten Rücklichtkamera oder so’n Dreck! Der stand auf der Fahndungsliste – und eure zwei verdammten Namen waren im Bordbuch eingespeichert! Ihr Scheißelappen habt euch selbst verraten!“
Beate bewegte sich nicht.
Nicht ein Muskel.
Ihre Stimme kam leise, glatt:
„Und was genau hast du jetzt vor? Uns erschießen, damit du ganz sicher im Knast landest?“
„Halt’s Maul, du eiskalte Schlampe! Ich ruf die Polizei an – und bis die hier sind, rührt ihr euch nicht. Ihr bleibt genau da sitzen, sonst knall ich euch wie die räudigen Hunde ab, die ihr seid!“
Alexander sah ihn an.
Still. Unbeweglich.
Nur die Augen, hellwach.
„Du glaubst wirklich, dass das eine gute Idee ist?“
Seine Stimme war gefährlich ruhig.
„Zwei Fremde, mitten in der Nacht, mit einer Schrotflinte bedrohen? Meinst du, das wird in deinem Polizeibericht gut aussehen?“
„Scheiß auf Berichte!“, bellte der Wirt.
„Ihr seid Gangster, Drecksschweine – keine Urlauber! Ich kann riechen, dass an euch was nicht stimmt! Ich bin nicht blöd! Ich kenn meine Leute hier – und ihr… seid Abschaum!“
Beate sprach jetzt, langsam, fast weich:
„Und trotzdem hast du uns ein Zimmer gegeben. Weil du gehofft hast, dass wir nicht nachfragen. Oder dass du einen Schnitt machst, wenn du dich mit uns gut stellst. Du dachtest, du könntest uns kontrollieren. So wie du jetzt diese Flinte kontrollierst.“
Der Wirt stockte.
Nur eine Sekunde.
Aber es reichte.
Alexander beugte sich einen Millimeter nach vorn.
Nicht zum Angriff. Nur ein Test.
Die Mündung der Flinte zuckte.
„Sitzt du da mit zitternden Händen, weil du die Wahrheit kennst?“, fragte er.
„Oder, weil du Angst hast, dass wir nicht nur Autodiebe sind?“
Ein Moment Stille.
Nur das Klacken der alten Uhr in der Ecke.
„Du bleibst hier!“, rief der Wirt schrill.
„Ich bin kein Idiot. Ich sperr euch in die Scheiß-Kammer, bis die Cops kommen. Keinen Bock, dass ich hier noch ’nen Mord hab!“
Beate seufzte.
Tief.
Fast müde.
„Dann mach. Aber beeil dich, ja? Ich hab heute noch was vor.“
Der Wirt starrte sie an.
Dann trat er zwei Schritte zurück, die Flinte im Anschlag.
„Los. Raus aus dem Bett. Hände über den Kopf. Keine Tricks – sonst puste ich euch das Hirn aus der verlogenen Visage.“
Alexander und Beate tauschten einen kurzen Blick.
Kein Plan. Kein Fluchtweg.
Nur improvisierte Geduld.
Sie standen auf.
Langsam.
Berechnend.
Alexander dachte:
Wenn er den Finger krümmt, stirbt hier heute mindestens einer.
Und er war sich sicher, dass es der Wirt war.
Der Wirt ging rückwärts voran.
Die Flinte zitterte weiterhin in seinen Händen, aber sein Finger lag jetzt fester am Abzug.
Schweiß rann ihm den Hals hinab, sammelte sich im Hemdkragen.
„Rechts. Die Kammer da. Tür auf. Rein. Kein Scheiß, ich mein das ernst!“
Beate war als Erste in der Bewegung.
Langsam.
Schulterblätter entspannt.
Füße leicht versetzt, wie im Yoga.
Der Türrahmen der Kammer ragte wie ein kalter Maulschlund vor ihr auf.
Dahinter: ein karger Raum, Holzregale, Reinigungsmittel, Mehl, Gläser mit Eingelegtem. Kein Fenster. Keine zweite Tür.
Alexander folgte ihr.
Seine Haltung unverändert – der maskierte Ausdruck eines Mannes, der längst angefangen hatte zu zählen, wie viele Schritte zwischen Flinte und Ziel lagen.
Und wie viele Atemzüge Beate brauchen würde, um die Schwelle zu überschreiten.
Der Wirt bellte erneut:
„Los jetzt! Rein da, verdammte Scheißer! Ich schwör auf meine Mutter, ich—“
Er kam näher.
Einen Schritt zu nah.
Beate drehte sich nicht um.
Aber ihre Stimme kam plötzlich. Leise.
Kalt.
„Willst du wirklich die Tür hinter mir schließen, bevor du weißt, was ich in der Hand hab?“
Der Wirt stockte.
Das Zucken in der Flinte wurde stärker.
„Was?! Was soll das heißen?! Zeig die Hände! ZEIG SIE!“
Und in dem Moment, wo er schrie –
drehte Beate sich.
Schnell. Hart. Kontrolliert.
Sie trat zur Seite, riss ihren rechten Arm hoch und traf mit dem Ellenbogen den Lauf der Schrotflinte.
Metall gegen Knochen.
Ein trockener Knall, kein Schuss, nur Aufprall.
Der Wirt keuchte, taumelte, versuchte noch, den Schaft zu halten – da war Beate schon bei ihm.
Sie trat ihm frontal gegen das Schienbein – hart, präzise.
Er sackte leicht ein, genug, dass sie ihren Unterarm unter seine Kehle schieben konnte.
Alexander war jetzt neben ihr.
Die Schrotflinte fiel.
Ein dumpfer Klang auf den Fliesen.
Der Wirt keuchte.
Ein keuchendes, würgendes Geräusch, als Beates Arm sich wie ein Schraubstock festzog.
„Du bist nicht der Erste, der dachte, ich sei eine Option“, zischte sie ihm ins Ohr.
„Aber du bist mit Abstand der Dämlichste.“
Er röchelte, ruderte mit den Armen –
Alexander trat auf das Gewehr. Ruhig. Kein Kommentar.
Beate ließ los.
Ein kontrolliertes Nachgeben.
Der Wirt sackte an der Wand entlang zu Boden, spuckte, röchelte, rang nach Luft.
Alexander hockte sich neben ihn.
Sein Blick war jetzt still.
Fast mitleidig.
„Du hast dich nur eingemischt, weil du dachtest, das Auto sei die ganze Geschichte.“
Er beugte sich näher.
„Aber du hast keine Ahnung, was für Menschen in deinem Gästezimmer geschlafen haben.“
Beate richtete sich auf, atmete ruhig durch.
„Und keine Ahnung, wie knapp du gerade überlebt hast.“
Sie trat einen Schritt zurück.
Alexander sah zum Fenster.
„Sonnenaufgang. Wir brauchen ein anderes Fahrzeug.“
Beate nickte.
„Ich hol unsere Sachen.“
Der Wirt blieb am Boden liegen.
Zitternd.
Schweißnass.
Einmal wollte er etwas sagen.
Ein Wimmern vielleicht.
Aber Beates Blick brachte ihn zum Schweigen.
Beate trat aus dem Zimmer, die Tür fiel leise ins Schloss hinter ihr. Ihre Schritte waren kaum zu hören, selbst der Dielenboden unter ihren Stiefeln hielt den Atem an.
Im Zimmer lagen ihre Tasche und ihre beiden Jacken ordentlich nebeneinander, als hätte sie geahnt, dass der Aufenthalt hier nicht von Dauer sein würde.
Sie nahm ihre Jacke, prüfte ihre Tasche, dann stand sie für einen Moment still da.
Der Lichtschalter klickte. Dann war nur noch Dunkel.
Wenige Minuten später kehrte sie zurück – nicht nur mit den Taschen, sondern auch mit einem alten Tablett aus emailliertem Metall. Darauf drei kleine Gläser, schlicht, kantig, gefüllt mit einem tiefgrünen Kräuterschnaps, der beim Gehen leise klirrte.
Alexander hob eine Augenbraue.
Der Wirt sah aus, als hätte man ihm die Luft aus dem Gesicht gestrichen.
Beate stellte das Tablett auf den nächstbesten Tisch, hob ein Glas an, deutete auf Alexander, dann auf sich selbst, und schließlich auf den verdutzt glotzenden Wirt.
„So“, sagte sie ruhig, fast heiter, „wir trinken jetzt auf Brüderschaft. Alte Schule. Also: Ich bin Beate. Das ist Alexander. Und du…?“
Der Wirt blinzelte.
„Was soll der Scheiß jetzt?“
Alexander trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme. Er sagte kein Wort, beobachtete nur.
Beate stand völlig unbewegt da. Nur die Augen blitzten kühl.
„Das ist keine Einladung“, sagte sie. „Das ist ein höflicher Abgang. Mit Respekt. Du willst doch, dass wir verschwinden, oder?“
Der Wirt zögerte.
Dann griff er mit einem Schnauben nach dem Glas.
„Franz“, knurrte er. „Ich heiß Franz.“
„Na bitte“, sagte Beate. „Auf uns.“
Sie prosteten sich zu. Alexander trank als Erster. Beate folgte. Franz zögerte einen Moment – dann kippte er den Schnaps ebenfalls. Laut schluckend.
Stille.
Drei Sekunden vergingen. Fünf.
Dann begann Franz zu husten. Erst kurz, dann stärker.
Er griff sich an die Brust, taumelte rückwärts gegen einen Stuhl.
Ein Röcheln, tief und rau. Sein Gesicht lief rot an. Dann grau.
Ein Glucksen. Dann krachte er auf die Knie.
Alexander sah zu, wortlos, unbewegt. Nur seine Pupillen zogen sich leicht zusammen.
Beate stellte ihr Glas ab.
„Er hat uns gut bedient“, sagte sie trocken.
Franz röchelte, seine Lippen suchten Luft. Panik flackerte in den Augen, doch der Körper begann bereits, sich nach innen zurückzuziehen.
Alexander trat näher, ging in die Hocke. Nicht aus Mitgefühl.
Er betrachtete den Verfall.
„Digitalis?“, fragte er ruhig.
„Nein. Bittermandel mit ein bisschen Liguster. Klassisch, aber zuverlässig“, antwortete Beate.
Dann war es still.
Franz kippte vornüber, ein letzter Zuckungsschwall, dann nichts mehr.
Beate drehte sich zu Alexander, ihre Stimme wieder so kühl wie zu Beginn der Nacht.
Er sah sie lange an. Dann fragte er:
„Warum hast du mich nicht gleich mit vergiftet?“
Beate griff nach ihrer Tasche, schob den Riemen über die Schulter und antwortete ohne Blickkontakt:
„Weil du mich nicht Schlampe genannt hast.“
Dann ging sie zur Tür, öffnete sie in die graue Morgendämmerung, die inzwischen draußen lauerte.
Der neue Tag war da.
Ohne Franz.
Mit zwei Menschen, die mehr übereinander wussten, als ihnen lieb sein konnte.
*
Dresden, Taschenbergpalais Kempinski – Suite 413
Der Morgen begann wie jeder andere.
Mit dem metallischen Klack der Schlüsselkarte, dem gedämpften Räuspern der Etagefrau und dem Klicken der Schuhe auf dem Teppichboden.
Doch in Zimmer 413 war etwas anders.
Keine Antwort. Kein Geräusch. Keine Bewegung.
„Housekeeping?“
Ihre Stimme war routiniert, fast gesungen.
Sie wartete. Wieder keine Reaktion.
Also drückte sie die Tür ein Stück weiter auf.
Der Lichtschalter klickte.
Tageslicht strömte durch die schweren Gardinen – von Beate ordentlich zurückgezogen.
Auf dem Tisch: zwei Espressotassen, leer. Ein Glas Wasser, halbvoll.
Ein zerdrücktes Kissen auf der Couch.
Nichts sah nach Eile aus.
Nichts nach Drama.
Und doch: Etwas stimmte nicht.
Der Bettüberwurf war nicht heruntergezogen. Die Tagesdecke glatt, beinahe unberührt.
Nur eine Figur – regungslos.
Martin Bollinger lag quer auf dem Bett.
Nicht zugedeckt, nur leicht zurückgelehnt, als hätte er sich ausruhen wollen.
Die Augen offen. Der Blick eingefroren.
Ein Ausdruck von Überraschung auf den Lippen – wie ein Gedanke, der nicht zu Ende gedacht wurde.
Sein Hemd war geöffnet, die Krawatte noch locker um den Hals.
Kein Blut. Kein Kampf. Kein Chaos.
Nur ein Körper, verlassen von allem, was ihn einmal beseelt hatte.
Die Etagefrau erstarrte, ließ das Funkgerät fallen.
Dann stürzte sie rückwärts aus dem Zimmer.
Drei Stunden später.
Ein Arzt des Dresdner Notfalldienstes, Typ: abgeklärt, emotionslos, registrierte die Szene.
Die Pupillen starr.
Die Haut: blass, leicht gräulich.
Körpertemperatur gesunken.
Der Tod musste zwischen zwei und vier Uhr eingetreten sein.
Er wog die Hände, prüfte noch das Handgelenk, die Zunge, das Zahnfleisch.
Nichts Auffälliges.
„Vermutlich ein akuter Myokardinfarkt“, sagte er ins Diktiergerät.
„Keine äußeren Verletzungen, kein Fremdeinfluss sichtbar. Weitere Feststellung durch den Rechtsmediziner empfohlen.“
Er nickte dem herbeigeeilten Hoteldirektor zu.
„Bitte Angehörige informieren. Der Name ist Bollinger, Martin. Privatadresse Ingolstadt. Ehefrau: Dr. Sandra Bollinger.“
*
Die Sommerluft stand schwer über dem gepflegten Garten.
In der offenen Küche summte die Espressomaschine leise.
Zwei Brotdosen lagen geöffnet auf der Granitplatte – frisch geschnippeltes Gemüse, Müsliriegel, Apfelschnitze.
Dr. Sandra Bollinger zog gerade dem jüngsten der beiden Kinder ein rosanes T-Shirt über den Kopf, als das Festnetztelefon klingelte.
Altmodisch. Sie bestand darauf. Kein Display. Kein Spam. Nur klare Verbindungen.
„Bollinger.“
„Frau Dr. Bollinger? Hier ist das Taschenbergpalais Kempinski in Dresden. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Ehemann… heute Morgen tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden wurde.“
Stille.
Für einen Moment bewegte sich nichts – nicht ihr Atem, nicht ihre Augen. Nur die Stimme des Kindes, das kichernd neben ihr auf dem Hocker saß.
„Wie bitte?“ Ihre Stimme war kaum hörbar.
„Es tut uns sehr leid… Die Ärzte gehen von einem Herzinfarkt aus. Er ist offenbar in der Nacht verstorben.“
Sandra sagte nichts. Legte nur langsam, mechanisch den Apfel aus der Hand.
Das Kind sah sie an. Fragend.
Sie drehte sich weg. Ging stumm ins Nebenzimmer. Schloss die Tür.
„Ein Herzinfarkt?“ Wiederholte sie leise.
„Ja, so lautet die erste Einschätzung des Notarztes.“
Ein langer Atemzug. Dann:
„Das ist unmöglich.“
„Verzeihung?“
„Ich bin Kardiologin. Ich habe meinen Mann vor exakt acht Tagen gründlich untersucht. Belastungs-EKG. Ultraschall. Laborwerte. Troponin, LDL, CRP – alles makellos. Er hatte das Herz eines Vierzigjährigen.“
Sie sprach jetzt schärfer. Klarer. Kontrollierter.
„Er hatte keinerlei koronare Risikofaktoren. Keine Hypertonie. Kein familiäres Risiko. Kein Stresslevel, das ich nicht selbst ebenfalls hätte.“
Ein kurzer, fast bitterer Laut.
„Sie können mir nicht erzählen, dass mein Mann einfach… umfällt.“
Am anderen Ende der Leitung Schweigen. Dann:
„Das tut mir leid zu hören, Frau Dr. Bollinger. Aber…“
„Ich bestehe auf eine Obduktion“, unterbrach sie, eiskalt.
„Sofort. Rechtsmedizin. Nicht irgendein Hausarzt mit einem Stethoskop. Ich will toxikologische Befunde, ich will eine histologische Aufbereitung der Herzmuskulatur, ich will jeden verdammten Laborwert – verstehen Sie mich?“
Ein scharfer Atemzug.
„Ich werde in drei Stunden in Dresden sein. Sorgen Sie dafür, dass niemand ihn bewegt, bis ich da bin.“
„Natürlich, Frau Doktor… wir… werden alles tun, was Sie wünschen.“
„Das hoffe ich für Sie.“
Sie legte auf. Reglos. Kein Zittern, kein Schluchzen.
Nur Leere.
Dann setzte sie sich langsam auf die Kante der Fensterbank.
Ihr Blick wanderte über das Familienfoto an der Wand – Martin mit den Kindern auf dem Rücken, lachend im Licht eines italienischen Spätsommers.
Ein Herzinfarkt?
Nein.
Nicht Martin. Nicht so.
Etwas stimmte nicht.
Rechtsmedizin Dresden – 18:23 Uhr
Die erste Spur führt ins Leere
Der Wind roch nach nassem Stein, als Dr. Sandra Bollinger aus dem Taxi stieg. Ihre Haltung war aufrecht, der Schritt präzise – trotz der Schwere in ihrer Brust, die sie kaum benennen konnte.
Dresden wirkte auf seltsame Weise leblos. So, als hätte die Stadt selbst den Atem angehalten.
Die Rechtsmedizin lag am Rand der Inneren Altstadt – ein Flachbau, pragmatisch, anonym. Sandra kannte diese Orte. Als Kardiologin an der Uniklinik Ingolstadt hatte sie oft genug hierher überweisen müssen.
Aber heute betrat sie diesen Raum nicht als Ärztin.
Heute war sie Witwe.
Und etwas stimmte nicht.
Ein Assistent führte sie schweigend zu Sektor 4. Dort wartete bereits der leitende Rechtsmediziner, Dr. Klapproth – hager, sachlich, mit der Stimme eines Mannes, der den Tod schon lange nicht mehr persönlich nahm.
„Frau Dr. Bollinger. Mein Beileid.“
Sie nickte stumm. Worte waren Zeitverschwendung.
Er deutete auf den Körper unter dem Tuch. Sandra trat näher, schlug die Decke zurück – nur so weit, dass das Gesicht sichtbar wurde.
Ihr Mann.
Reglos. Friedlich. Viel zu friedlich.
„Festgestellte Todesursache?“
„Vorläufig: Herzversagen. Die Umstände deuten auf einen nächtlichen plötzlichen Infarkt hin – keine äußeren Verletzungen, keine Abwehrspuren.“
Sandra schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Er hatte kein schwaches Herz. Ich habe ihn erst letzte Woche untersucht – Echokardiografie, Belastungs-EKG, Lipidprofil. Alles im Normbereich. Makellos.“
Klapproth zog die Augenbrauen hoch. „Dann veranlassen wir eine vollständige Obduktion.“
„Und toxikologische Untersuchung.“
„Natürlich.“
Sie schwieg. Ihr Blick glitt über den Körper, dann über das Protokoll auf dem Tisch.
„Letzter Kontakt?“
„Kellner im Restaurant, ca. 23:30 Uhr. Danach Lounge. Er wurde später von einer unbekannten Frau auf sein Zimmer begleitet.“
Ein Zucken in Sandras linkem Mundwinkel. „Unbekannt?“
„Keine Check-in-Daten auf ihren Namen. Keine Registrierung. Die Kameras zeigen nur, wie sie zusammen das Obergeschoss betreten.“
„Und beim Verlassen?“
Klapproth zögerte.
„Sie verließ das Hotel gegen 4:30 Uhr. Allein. Keine Hektik, keine verdächtigen Bewegungen.“
„Sie haben das Video?“
„Die Polizei ist informiert. Aber – ehrlich gesagt – es gibt darauf keine echten Anhaltspunkte. Die Frau ist sehr… unauffällig. Professionell. Keine DNA, kein Glas, keine Fingerabdrücke. Selbst das Kissen im Bett wurde offenbar vor dem Verlassen neu aufgeschüttelt. Kein Haar. Kein Lippenabdruck am Glas. Nichts.“
Sandra runzelte die Stirn. „Also wusste sie, was sie tat.“
„Oder war einfach sehr reinlich.“
Sie schwieg einen Moment. Dann:
„Ich will das Video trotzdem sehen.“
Hotel Taschenbergpalais – Sicherheitsbüro
Schwarzweißaufnahmen. Hochauflösend. Korridor, Etage 4.
01:12 Uhr: Martin, mit locker geöffnetem Sakko, betritt den Gang. Neben ihm – eine Frau. Blond. Groß. Helles, strukturiertes Kleid. Kein auffälliges Make-up. Keine Clutch, keine Jacke.
Ihr Gang war ruhig. Kein Zögern. Keine Unsicherheit.
Aber auch kein Flirt. Kein Körperkontakt. Nur ein beiläufiger Seitenblick.
Sandra starrte auf den Bildschirm.
„Können Sie mir das Gesicht näher heranzoomen?“
Der Sicherheitsmitarbeiter versuchte es. Unscharf. Zu hell. Winkel ungünstig.
Sandra trat näher.
„Das Kleid. Von welchem Designer ist das?“
„Wurde nicht erkannt. Kein RFID, kein auffälliger Print. Unmöglich zuzuordnen.“
„Und beim Verlassen?“
04:31 Uhr. Dieselbe Frau, dieselbe Kleidung. Gleichmäßiger Gang. Blick gesenkt. Keine Kamera, in die sie direkt schaut. Keine Spur.
Sandra spürte, wie sich etwas in ihr verkrampfte.
Ein Fehler – ein einziger – und es gäbe eine Spur.
Aber hier war nichts.
Zu perfekt.
*
Sandra saß auf einem der kalten Stühle. Sie rieb sich über die Stirn.
„Sie wissen, was mich stört, Dr. Klapproth?“
Er hob die Augenbrauen.
„Wenn jemand jemanden ermordet – ohne Gewalt, ohne Spuren –, dann braucht es Vorbereitung. Wissen. Kontrolle.“
„Ein Profi?“
„Oder jemand, der gelernt hat, niemandem etwas zu schulden. Kein Motiv sichtbar. Keine Beziehung. Kein Name. Kein Fehler. Das ist kein Zufall.“
Sie schwieg. Dann fast tonlos:
„Es fühlt sich an wie ein Testlauf. Oder… als hätte sie es schon einmal getan.“
„Kein Kind von Traurigkeit“
Der Duft von Zitronenpolitur und frischen Orchideen lag in der Luft, als Sandra durch die Lobby des Taschenbergpalais schritt. Ihr Blick war fest, das Kinn leicht erhoben – Ärztin, Witwe, Ermittlerin wider Willen.
Am Empfang begrüßte man sie mit jener professionellen Höflichkeit, die alles sagte und nichts meinte.
„Dr. Bollinger. Nochmals unser herzlichstes Beileid. Was können wir für Sie tun?“
„Ich möchte mit dem Housekeeping sprechen. Jemand, der gestern Frühdienst hatte – Zimmer 412.“
Ein leichtes Zögern. Dann ein Nicken.
„Ich werde jemanden holen.“
Sie wartete im Seitensalon, zwischen geschwungenen Sofas und zu viel Ruhe.
Nach ein paar Minuten betrat eine junge Frau den Raum – etwa Anfang 30, schmal, mit dunklem Haar, das zu strengem Dutt gezwirbelt war. Auf der Brust: Namensschild „Sophie“.
„Guten Tag, Frau Doktor. Ich war heute Früh im Dienst.“
„Sie haben das Zimmer meines Mannes gefunden.“
„Ja.“ Ein kurzer Blick. „Er lag ruhig im Bett. Wie eingeschlafen. Ich habe… sofort jemanden geholt.“
Sandra nickte. „Gab es Auffälligkeiten?“
„Nein.“ Sophie sprach zu schnell. „Das Zimmer war aufgeräumt. Keine zerbrochenen Gläser, keine Unordnung.“
„Gab es Besuch in der Nacht?“
Ein Zucken im Gesicht der Frau.
„Die Rezeption hat niemanden offiziell eingecheckt.“
Sandra hob eine Augenbraue. „Aber?“
Sophie senkte die Stimme. „Manchmal… kommt jemand durch, ohne dass es registriert wird. Es passiert nicht oft. Aber… Herr Bollinger war… kein Kind von Traurigkeit.“
Stille.
Sandra sagte nichts. Schaute nur.
Sophie senkte den Blick. „Er hatte schon öfter Besuch, wenn er bei uns war. Meistens diskret. Teure Frauen. Immer neue Gesichter. Niemals dieselbe zweimal.“
Das traf. Sandra ließ sich nichts anmerken.
„Danke.“
Sophie trat zurück, als hätte sie etwas gesagt, das sie nicht sagen sollte.
Noch bevor Sandra über die Information nachdenken konnte, trat ein Concierge an sie heran.
„Dr. Bollinger? Der Hoteldirektor bittet Sie in sein Büro. Man hat einige Gegenstände gefunden, die Ihr Mann bei uns deponiert hatte. Im Safe.“
Ein holzvertäfelter Raum, der mehr nach Opernintendant als nach Hotelchef wirkte. Auf dem massiven Schreibtisch lag ein diskreter schwarzer Koffer, ein schmaler Umschlag daneben. Der Direktor – korrekt, feinsinnig, mit kühler Eleganz – stand auf, als Sandra eintrat.
„Frau Dr. Bollinger. Bitte setzen Sie sich.“
Sie blieb stehen.
„Was ist das?“
„Ihr Mann hatte bei uns einen Safe angemietet, den wir aufgrund der Umstände jetzt geleert haben.“
Sandra starrte ihn an. „Wie bitte?“
Der Direktor öffnete den Koffer langsam. Vorsichtig. Als könnte er explodieren.
Darin lagen:
– Eine kompakte schwarze Digitalkamera, Modell Canon XA55 – professionelles Equipment.
– Zwei externe SSD-Festplatten, verschlossen in stoßsicheren Cases.
– Ein dünnes Notizbuch, dunkelblaues Leder, ohne Beschriftung.
„Wir haben die Inhalte nicht überprüft“, sagte der Direktor ruhig. „Wir halten uns an unsere Protokolle.“
Sandra trat näher. Griff nach der Kamera. Kein Akku eingelegt, aber die Speicherkarte steckte noch. Ihre Finger zitterten fast unmerklich.
„Darf ich das mitnehmen?“
„Selbstverständlich.“
„Und die Polizei?“
„Wir haben die Existenz des Koffers nicht gemeldet. Er war nicht Bestandteil der Zimmerdurchsuchung. Wenn Sie wünschen, geben wir ihn offiziell an Sie weiter.“
Sandra nickte langsam. Es war, als würde sich ein Fenster öffnen, durch das ein ganz anderer Martin Bollinger hereinsah.
Einer, der mit Vorsatz plante.
Mit Zweifeln.
Mit Angst?
„Ich danke Ihnen“, sagte sie, fast tonlos. „Wenn Sie mir einen ruhigen Raum zur Verfügung stellen könnten – ich würde gern allein sein, bevor ich gehe.“
Der Direktor nickte.
„Zimmer 416. Abschließbar. Kein Personal.“
Danke für dein Vertrauen beim Entwickeln dieser vielschichtigen Geschichte. Die folgende Szene ist verstörend, aber ich werde sie mit der gebotenen literarischen Sorgfalt und psychologischen Tiefe darstellen – nicht voyeuristisch, sondern mit dem Fokus auf Sandras Reaktion, ihre innere Zerrüttung und den moralischen Abgrund, der sich vor ihr auftut.
Szene: Zimmer 416 – Taschenbergpalais, später Abend
Der Raum war still. Zu still. Die Fenster geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Draußen sank das Licht der Altstadt in weichen Schatten, während Sandra Bollinger in einem Sessel saß, die Kamera vor sich, das Ladekabel an eine Steckdose geklemmt. Die Festplatten lagen wie stumme Zeugen auf dem Schreibtisch. Neben ihr: ein Laptop, den das Hotel ihr auf Wunsch gebracht hatte.
Sie hatte sich nicht einmal die Jacke ausgezogen.
Ein Flimmern auf dem Bildschirm. Die Kamera sprang an.
Das erste Video war einfach betitelt:
„17.08. – Nacht“
Sandra klickte es an, ihre Hand zitterte leicht.
Das Bild war grobkörnig, aber deutlich.
Ein Hotelzimmer. Vertraut. Marmorbad, weißes Leinen, goldenes Licht.
Martin saß auf dem Bett. Voll bekleidet. Hemd, dunkle Hose, Socken. Die Kamera stand auf einem Stativ – er blickte mehrfach hinein, überprüfte den Bildausschnitt, bevor er sich zurücklehnte.
Dann trat eine Frau ins Bild. Nackt. Fesseln an Hand- und Fußgelenken, die Haltung erzwungen, aber stabil. Ein Lederknebel baumelte lose um ihren Hals, als wäre er Teil eines Requisits, noch nicht im Einsatz.
Sandra atmete flach.
Martin stand auf. Langsam, kontrolliert. Er berührte die Frau nicht. Noch nicht. Er sprach.
Kein Ton – oder war das Mikro stumm? Nur seine Lippen bewegten sich. Befehle?
Die Frau schüttelte den Kopf, dann nickte sie. Unsicher. Oder gespielt?
Dann folgte die erste Bewegung. Martin griff nach einer Reitgerte. Strich sie ihr über den Rücken. Sanft. Wie ein Prüfender. Dann – ein Hieb. Nicht hart. Aber gezielt.
Die Frau zuckte zusammen.
Er trat wieder zurück. Betrachtete. Sein Gesicht – ruhig, fokussiert. Fast… meditativ.
Er selbst blieb angezogen, berührte sich nicht. Und doch war seine Erregung sichtbar. Die Spannung in seinem Körper. Die Art, wie er sich bewegte. Eine Lust, die nicht körperlich, sondern kontrolliert war. Machtvoll. Kalt.
Sandra stoppte das Video.
Sie saß reglos da. Ihre Hände lagen flach auf dem Tisch, das Kinn leicht gesenkt. Kein Laut.
Nach einer halben Minute klickte sie auf die nächste Datei.
„19.07. – Messe Leipzig“
Wieder ein Hotelzimmer. Andere Frau. Jünger. Sehr jung.
Nackt. Gefesselt.
Dieses Mal mit Ton.
„Wenn du mir nicht sagst, dass du mich willst, fangen wir gar nicht erst an.“
Martins Stimme. Ruhig. Kalkuliert.
„Ich… will dich.“
„Sag es noch mal.“
„Ich will dich.“
Ein Kichern. Oder ein Zittern? Die Tonqualität war schlecht.
Was danach geschah, ließ keinen Zweifel an der Dominanz. Aber an der Einwilligung? Alles spielte mit der Grauzone. Mit Andeutungen, Halbsätzen, Unsicherheit.
Sandra fühlte, wie sich ein dunkles Loch in ihrer Brust öffnete.
Nicht wegen des Fetischs. Nicht wegen des Spiels. Sondern wegen der Verachtung, mit der Martin agierte.
Dem Blick. Der Kälte. Der Disziplin.
Sie klickte sich durch weitere Dateien. Stumm. Unfassbar viele.
Und dann – plötzlich – ein Ordner, versteckt in einem anderen Verzeichnis:
„Beate_W.“
Sie klickte ihn nicht an. Nicht sofort.
Denn in diesem Moment wusste sie:
Es war kein Zufall gewesen.
Nicht die Begegnung im Restaurant. Nicht das Gespräch. Nicht die Einladung.
Er hatte sie gesucht.
Oder sie ihn?
Sandra sah auf den Bildschirm. Der Dateiname des Clips lautete:
„Kontrolle_001“
Sie klickte.
Aber das Bild blieb schwarz.
Eine Fehlermeldung. Datei beschädigt.
Nur ein Frame blitzte kurz auf:
Ein heller Raum. Ein Schatten. Blonde Haare.
Sandra fuhr sich über das Gesicht. Der Schweiß in ihren Handflächen klebte. Sie schloss den Laptop, atmete flach durch.
Dann stand sie auf.
Langsam.
Fest.
Sie griff nach der Kamera, den Festplatten – und verstaute sie in ihrer Tasche.
Ihr Blick ging noch einmal zum Fenster. Dresden war ruhig.
Doch in ihr tobte ein Sturm.
Es war ein makelloser Vormittag. Kühl, klar, mit diesem beinahe anmaßenden Sonnenlicht, das alles sichtbar machen wollte – auch das, was besser im Schatten blieb.
Dr. Sandra Bollinger stand auf dem Gehweg vor dem grau-beigen Gebäude, dessen Adresse wie ein dunkler Scherz auf sie wirkte:
Schießgasse.
Sie ließ den Blick kurz über den altstädtischen Straßenzug gleiten. Kopfsteinpflaster, verhaltene Betriebsamkeit, Uniformierte, die rauchend neben der Eingangstür standen.
Dann strich sie sich einmal glatt über das Revers ihres dunkelgrauen Blazers, atmete ruhig aus und trat ein.
Im Inneren: Neonlicht, Linoleumboden, der Geruch von Papier, Kaffee und altem Teppich – eine Mischung, die Erinnerungen weckte an Krankenhausflure und Gerichtsmedizin. Orte der Protokolle. Orte der Klarheit.
Ein Beamter führte sie wortlos in den zweiten Stock.
Kriminalkommissariat 3, stand auf einem abgewetzten Schild.
Im Besprechungsraum warteten Hauptkommissar Rau und seine Kollegin Tölking.
Rau war Mittvierziger, glatt rasiert, zurückhaltend, das Jackett zu weit, aber der Blick wacher als sein Auftreten vermuten ließ.
„Dr. Bollinger, danke, dass Sie gekommen sind. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.“
„Angenehm ist relativ“, erwiderte Sandra sachlich, ohne Bitterkeit.
Sie nahm Platz, schlug die Beine übereinander, die Hände im Schoß gefaltet. Kein Schmuck, kein Make-up. Nur Augen, die zu viel gesehen hatten.
Rau öffnete eine dünne Akte.
„Wie bereits telefonisch erwähnt, geht es heute nur um ein paar ergänzende Fragen zur medizinischen Vorgeschichte Ihres Mannes – und mögliche Anhaltspunkte zu persönlichen Kontakten.“
„Verstehe.“
Er blickte kurz auf den Zettel vor sich.
„Uns liegt der vorläufige Befund eines natürlichen Todes vor – Herzversagen, ohne äußere Einwirkung. Dennoch bitten wir um Ihre Einschätzung. Sie sind Kardiologin, korrekt?“
„Oberärztin an der Klinik in Ingolstadt“, bestätigte sie ruhig. „Ich habe Martin letzte Woche noch selbst untersucht – Belastungs-EKG, Langzeitmessung, Echo, alle Werte perfekt. Er war körperlich in guter Verfassung.“
Rau notierte etwas. „Gab es Vorerkrankungen, familiäre Belastung?“
„Sein Vater hatte Bluthochdruck. Aber kein Herzinfarkt in der Familienanamnese. Ich hätte ihn nicht für gefährdet gehalten. Im Gegenteil.“
„Gab es… besondere Belastungen in letzter Zeit? Beruflich oder privat? Feinde? Bedrohungen?“
Sie zögerte kurz, hob dann die Augenbrauen kaum merklich.
„Nicht, dass ich wüsste. Martin war beliebt. Sehr aktiv im beruflichen Netzwerk. Kein Mensch, der sich viele Feinde machte.“
Rau nickte langsam.
Dann legte er den Stift beiseite und faltete die Hände vor sich.
„Danke, Frau Dr. Bollinger. Das hilft uns fürs Protokoll. Ich muss Sie allerdings darauf hinweisen, dass wir derzeit keine weiteren Informationen zu den Ermittlungen preisgeben können.“
Ein stiller Moment. Die Temperatur im Raum schien plötzlich zu sinken.
„Also… keine Auffälligkeiten im Hotelzimmer? Keine Hinweise auf Fremdeinwirkung?“
„Das kann ich Ihnen aktuell nicht bestätigen“, sagte er ruhig.
Ein leerer Satz, aber deutlich genug: Sie würde nichts erfahren. Noch nicht.
Sandra nickte knapp, erhob sich.
Doch Rau war noch nicht fertig.
„Einen Moment noch – wir haben die persönlichen Gegenstände Ihres Mannes zurückgegeben bekommen. Vorübergehend wurden sie zur Sichtung einbehalten. Rein standardmäßig.“
Er ging zur Schrankwand, holte eine kleine, flache graue Box hervor.
Darin:
– Ein Smartphone.
– Eine schwarze Brieftasche aus Leder.
– Und ein MacBook Pro, schlicht und silbern, makellos.
„Wir konnten die Geräteinhalte nicht vollständig prüfen, da sie durch biometrische Sperren geschützt sind. Falls Sie einen Zugang haben, behalten Sie sie gern – sofern uns im weiteren Verlauf nichts anderes veranlasst, sie erneut einzuziehen.“
Sandra nahm die Box vorsichtig entgegen. Sie war schwerer als erwartet. Oder lag das nur an dem, was sie befürchtete?
„Danke“, sagte sie leise.
Sie trat einen Schritt zurück, blickte auf die drei Gegenstände – vertraut und gleichzeitig wie Fremdkörper.
Ein kurzer Händedruck, ein knappes Nicken, dann verließ sie das Büro.
Auf dem Weg nach draußen fühlte sie ihr Herz zum ersten Mal an diesem Tag beschleunigen. Nur leicht.
Aber spürbar.
Denn sie wusste, was möglicherweise auf dem Handy war.
Was auf dem Laptop gespeichert sein konnte.
Oder gar live aufgezeichnet.
Die Tür fiel leise ins Schloss. Einen Moment lang blieb der Raum still. Man hörte nur das gedämpfte Ticken der alten Wanduhr über dem Whiteboard.
Tölking drehte sich langsam zu ihrem Kollegen, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Rau…“, begann sie, fast beiläufig, „…seit wann erzählen wir Angehörigen was von natürlichem Herzversagen, wenn im Obduktionsbericht zwei volle Absätze über Alkaloidreste im Magen stehen?“
Rau saß noch immer an seinem Platz, starrte auf die nun geschlossene Tür. Dann rieb er sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel, wie jemand, der gleich einen langen Tag in noch längere Nacht überführen muss.
„Sie hat’s gebraucht“, sagte er trocken. „Einen klaren Satz. Einen, mit dem sie gehen kann.“
„Und? Was ist mit dem Laptop? Dem Handy? Du hast gesagt, die Dinger seien durch biometrische Sperren geschützt. Dabei hat sie selbst vorhin gesagt, sie kennt den Code. Und unser IT-Mensch hatte gestern schon Zugriff.“
Rau schnaubte. „Natürlich hatte er den. Sogar mehr, als mir lieb ist.“
Tölking trat einen Schritt näher. Ihr Blick war forschend, nicht unfreundlich – aber nicht mehr nur kollegial. „Warum deckst du sie?“
„Ich deck sie nicht.“
Er stand nun auf, nahm die Akte in die Hand, schlug sie zu. „Ich kauf uns Zeit.“
„Wofür?“
Rau ging zum Fenster, öffnete es einen Spalt. Kalte Luft drang in den Raum. Er sprach leise, fast so, als könnte Sandra noch mithören, obwohl sie längst gegangen war.
„Sie ist Kardiologin, Tölking. Oberärztin. Also nicht blöd. Nicht naiv. Und definitiv nicht so kontrolliert, wie sie heute getan hat.“
„Meinst du, sie weiß was?“
„Ich bin sicher, sie weiß alles.“
Tölking schwieg. Sie trat zum Tisch, warf einen Blick auf das beige Formular, auf dem Sandra unterschrieben hatte. Ein Hauch ihrer Parfümnote hing noch in der Luft – herb, medizinisch, beinahe antiseptisch.
„Warum also nicht einfach zur Zeugin machen? Oder zur Verdächtigen?“
Rau schloss das Fenster wieder.
„Weil ich keine spionierende Kardiologin brauche, die sich plötzlich in jedes Forensikprotokoll einhängt, jede Mail auf ihrem Weg zum Haftbefehl leakt oder, schlimmer noch, selbst anfängt zu ermitteln.“
„Du meinst, sie fängt an, Beate Wolkner zu jagen?“
„Oder zu schützen. Je nachdem, was zwischen den beiden wirklich lief.“
Tölking nickte langsam. Dann beugte sie sich vor, holte aus einem Briefumschlag ein paar ausgedruckte Seiten hervor – Ausdrucke aus dem Kalender von Martin Bollingers Laptop.
„Das hier reicht dir? Für eine bundesweite Fahndung?“
Rau nahm die Blätter, überflog die Termine.
„Mittagessen mit Wolkner. Zimmernummer. Uhrzeit. Danach: keine weiteren Einträge.“
Er legte sie beiseite.
Dann blickte er Tölking direkt an.
„Gib’s raus. Vollständiger Name: Beate Wolkner. Letztbekannter Wohnsitz: Dresden. Beruf: Unternehmensberaterin für Nachhaltigkeit. Erscheint regelmäßig an Hochschulen. Fokus: Mittelstand, Ethik, neue Ökonomie.“
„LinkedIn-Profil mit Foto?“
„Ja. Und sie war nicht das erste Mal in Dresden.“
Tölking machte sich Notizen. Ihre Bewegungen waren präzise, routiniert. Dann sah sie kurz auf.
„Was, wenn sie schon über alle Berge ist?“
Rau antwortete nicht sofort.
Dann:
„Dann muss sie irgendwann auftauchen. Solche Frauen verschwinden nicht. Sie verändern nur ihre Spielzüge.“
Gern – hier ist die anschließende Szene aus der Perspektive des Polizisten, der Beate und Alexander kontrolliert hat. Sie bringt ein neues Tempo ins Spiel, ohne plumpen Zufall zu bemühen, sondern über den schleichenden, unbequemen Moment der Ahnung:
*
Der Kaffee war abgestanden, aber warm.
Polizeikommissar Lehner stellte den Becher auf den Tisch, knetete die Finger beider Hände ineinander und sah auf das Protokollformular, das halb ausgefüllt vor ihm lag.
Allgemeine Fahrzeugkontrolle. 00:37 Uhr.
Fahrerin: Beate Wolkner. Beifahrer: männlich, keine Auffälligkeiten. Aston Martin Vantage, Kennzeichen M-WX-4371.
Keine Verstöße, keine besonderen Vorkommnisse.
Er hätte es längst abspeichern sollen. Routine.
Aber etwas nagte.
Ein kleiner Stachel im hintersten Winkel seines Gedächtnisses.
Der Name. Beate Wolkner.
Nicht ganz unbekannt.
Nicht im Sinne von „schon mal gesehen“. Sondern… aufgeschnappt.
Er tippte mechanisch ein paar Worte in die interne Suchmaske, mehr aus Neugier als aus Pflicht.
Eine Anfrage über das polizeiliche Fahndungssystem, Name + Kfz-Kennung.
Fünf Sekunden. Dann:
TREFFER.
Fahndung Beate Wolkner, Bundesweit, aufgenommen durch Kriminalkommissariat 3 Dresden. Verdächtige in einem Mordfall.
Person gilt als hochintelligent, fluchterfahren, potenziell bewaffnet. Letzte bekannte Aufenthaltsorte: Dresden, Görlitz und Umgebung.
Lehner erstarrte.
Die Luft im Büro schien plötzlich stickiger, als hätte sich der Sauerstoff verflüchtigt.
Er rieb sich über den Nacken, stand dann hastig auf, Becher beinahe umgestoßen.
„Scheiße.“
Er griff zum Telefon, wählte direkt den Leitdienst in München, interne Leitung.
Zwei Sekunden Freizeichen.
„Diensthabender? Kommissar Lehner, PI Kelheim. Ich hatte heute Nacht 00:37 Uhr Kontakt zu Beate Wolkner. Persönlich. Fahrzeugkontrolle. Sie war mit einem Mann im Aston Martin unterwegs – Kennzeichen M-WX-4371.“
Kurze Stille. Dann Rascheln am anderen Ende.
„Sind Sie sicher?“
„Ja, 100 Prozent. Ich hab‘ ihren Ausweis gesehen. Sie war ruhig, kontrolliert, nichts auffällig – aber der Name ließ mich nicht los. Ich hab gerade den Fahndungseintrag gesehen.“
„Wagen auffällig?“
„Nur durch den Wert. Sonst nichts. Aber ich setze ihn jetzt direkt zur Fahndung aus. Letzter bekannter Standort war L 1074, hinter Abzweig Pettenhofen. Richtung Süden.“
„Verstanden. Wir geben sofort nach Dresden durch. Halten Sie alles fest. Und… gut reagiert.“
Klick. Aufgelegt.
Lehner ließ sich langsam wieder in den Stuhl fallen.
Ein Fluch kam ihm leise über die Lippen.
Nicht weil er Mist gebaut hätte. Sondern weil diese Frau sich verdammt gut im Griff hatte.
Zu gut.
Er aktivierte den Systemeintrag und markierte den Aston Martin als beobachtungswürdig – Kontaktperson einer bundesweit gesuchten Straftäterin.
Dann schickte er den Bericht in die Systeme von Dresden, Ingolstadt und München.
Standardprozedere, aber jetzt hatte es Gewicht.
Als er zurücksank, spürte er den bitteren Geschmack im Mund, der nicht vom Kaffee kam.
Was immer sie getan hatte – sie war nicht weit. Noch nicht.
*
Ein erstes fahles Licht lag über dem Hinterhof des Gasthauses – kein Sonnenaufgang, nur ein zögerndes Aufhellen der Welt, als würde der Tag selbst noch überlegen, ob er beginnen wollte.
Beate stand an der schmalen Hintertür, die direkt in die Speisekammer führte. Die Luft roch nach kaltem Fett, feuchtem Holz und Reinigungsmittel. Ihre Finger lagen ruhig auf dem Türknauf, während sie lauschte.
Kein Geräusch im Haus.
Es war kurz vor fünf. Zu früh für Frühstücksgeschirr, zu spät für die letzten Reste der Nacht. Das Personal kam erst ab sieben. Sie hatten ein schmale Zeitfenster.
Alexander trat aus dem Schatten der Durchreiche.
„Er liegt noch im Vorraum. Kein Blut. Keine Bewegung.“
Beate nickte, öffnete die Tür.
Dahinter: der Gang, in dem der Wirt vor kurzem noch gebrüllt hatte, mit der Schrotflinte in der Hand.
Jetzt lag er da wie ein leerer Sack.
Der Schlüssel seines Wagens baumelte noch am Gürtel. Beate kniete sich wortlos hin, nahm ihn ab.
„Er hat den Wagen gestern erwähnt. Alte Peugeot-Kiste. Essenslieferung für die Nachbardörfer. Ich hab’s mir gemerkt.“
Sie nickte in Richtung des Hinterhofs. „Steht unterm Vordach. Sieht keiner von der Straße.“
Beate zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, während Alexander die hinteren Türen des Fahrzeugs öffnete. Der tote Wirt lag auf einer alten Wachstuchdecke, notdürftig eingerollt – ohne Eile, aber auch ohne Respekt.
„Er meinte, der Wagen steht auf der Fahndungsliste“, sagte Beate leise, den Blick auf den Körper gerichtet.
„Also… einer von uns ist der Grund.“
Alexander stieß den Atem aus. Nicht genervt. Nachdenklich.
„Oder beide.“
Ein Moment Stille, in dem sich das Gewicht des Satzes wie Blei zwischen sie legte.
„Dresden?“ fragte er schließlich.
Beate nickte. „Vielleicht. Ich war dort. Einmal.“
„Und was hast du zurückgelassen?“
Beate zog eine Augenbraue hoch, sah ihn an.
„Nicht mehr als du in deiner Scheune.“
Er lachte trocken, ohne Freude.
„Fair.“
Sie hoben den Leichnam gemeinsam an, schoben ihn in den Wagen wie ein besonders schweres Stück Schweinefutter.
Es war keine Eile, nur Konsequenz.
Alexander schloss die Türen.
Der metallene Schlag hallte kurz über den Hof.
„Wenn die Polizei auf die Idee kommt, bei mir vorbeizuschauen – was sie tun werden, wenn der Wagen auf mich läuft – dann finden sie den Hof. Und dann sehen sie den Stall.“
Beate nickte.
„Und ein Lieferwagen voller Biomüll wird da nicht auffallen. Nicht zwischen Futterkübeln, Schlachtabfällen und dem, was du sonst noch lagerst.“
„Also rein theoretisch: perfekte Tarnung.“
Sie stiegen ein. Alexander fuhr.
Beate blickte auf die Straße vor ihnen, während die Felder langsam an den Fenstern vorbeizogen.
„Du denkst, du bist es?“, fragte sie ruhig, beinahe beiläufig.
„Die Fahndung?“
„Wenn du’s wärst, wärst du vorsichtiger gewesen“, murmelte er.
„Und wenn ich’s bin – na ja. Ich hab seit Jahren ein paar Dinge getan, die nicht besonders gut altern.“
„Vielleicht hat der Wirt auch nur Mist erzählt“, sagte Beate, ohne Überzeugung.
Alexander schüttelte den Kopf.
„Nein. Die Panik war echt. Der hat nicht gespielt.“
Sie schwiegen, während sich der Lieferwagen durch die ersten Kurven Richtung Süden kämpfte.
Dann sagte Alexander leise:
„Wenn sie am Hof auftauchen… wir haben keine zweite Chance. Also: Schweinestall. Alles rein. Dann verbrennen wir die Decke. Den Rest erledigen die Tiere.“
„Wir brauchen fünf Minuten“, sagte Beate.
„Nicht mehr.“
„Und wenn sie schon da sind, bevor wir ankommen, dann sehe ich das auf meiner Überwachungs-App?“
Sie sah ihn nicht an, als er antwortete.
Alexander sah aus dem Seitenfenster. Die Felder lagen grau und feucht da, schwer vom Morgentau.
Er sagte nichts mehr.
Aber in seinen Gedanken ratterte es längst.
Nicht nur über den Toten im Laderaum.
Sondern über Beate.
Und über die Möglichkeit, dass sich gerade der gefährlichste Mensch in diesem Fahrzeug auf dem Beifahrersitz befand.
Oder eben nicht.
*
Der Streifenwagen rollte gegen 08:15 Uhr langsam in die Einfahrt des Gasthofs Kruger. Die Morgensonne lag flach auf den Fensterläden, ein Vogel schoss mit flatternden Flügeln aus dem alten Walnussbaum am Rand des Parkplatzes.
Hauptmeister Lechner stieg aus, schlug die Fahrertür sachte zu.
„Ganz schön ruhig hier.“
Sein Kollege Breuer nickte nur, fuhr sich mit dem Handrücken übers Kinn.
„Kein Wunder, dass man hier mitten in der Nacht einen Aston Martin klauen kann.“
Sie betraten das Gasthaus durch den Seiteneingang, die Tür zur Gaststube stand bereits offen. Der Geruch von Kaffee, Reinigungsmittel und aufgebackenen Semmeln lag in der Luft.
Hinter der Theke wischte eine junge Frau Gläser mit einem leicht überdimensionierten Tuch ab. Als sie die Uniformen sah, versteifte sie sich kurz.
„Guten Morgen. Können wir den Wirt sprechen?“, fragte Lechner freundlich.
„Der Herr Kruger?“, erwiderte sie. „Der ist schon weg. Also… der fährt immer früh los. So gegen fünf. Hamberger Markt in München. Der Chef lässt sich immer Zeit. Kommt meist mittags zurück.“
„Fünf? Ganz schön früh.“
Die Kellnerin zuckte die Schultern, dann winkte zwei andere aus der Küche herüber. Eine ältere mit Dutt und ein schlaksiger Bursche mit Schürze und müden Augen kamen dazu.
„Wir würden gern ein paar Fragen stellen“, sagte Breuer ruhig. „Gestern Abend war ein schwarzer Aston Martin hier auf dem Parkplatz. Erinnern Sie sich?“
Die drei nickten fast synchron.
„Hat jeder gesehen“, meinte die ältere Bedienung. „So einen Wagen vergisst man nicht.“
„Und die Gäste?“
Die junge Kellnerin antwortete sofort – mit dem leichten Zittern in der Stimme einer, die zu viel über alles nachdachte.
„Ein Mann, Mitte vierzig, dunkle Haare, elegant. Und eine Frau – blond, schlank, sehr hübsch. Die beiden haben zusammen gegessen. Kein Paar, würd ich sagen. Also nicht direkt.“
„Warum nicht?“, hakte Lechner nach.
Sie zuckte die Schultern. „Weil sie keinen Körperkontakt hatten. Keiner hat gelacht, kein Händchenhalten. Es war eher… wie ein Gespräch zwischen zwei Bekannten.“
„Worüber haben sie gesprochen?“, fragte Breuer, sein Notizblock in der Hand.
Die Kellnerin lächelte schief.
„Bücher.“
Sie hob beide Augenbrauen, als wäre das in einem bayerischen Gasthaus das Verdächtigste von allem.
„Ganz ernsthaft. Romane. Krimis, glaub ich. Und dann waren sie plötzlich still. Irgendwie stiller als davor.“
„Unauffällig sonst? Gab’s Streit, laute Worte, irgendetwas?“
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Kein Streit. Kein Alkohol. Die Rechnung hat der Herr Kruger selbst gebracht, das war gegen halb elf.“
„Danach?“
„Ich hab sie nicht mehr gesehen“, sagte der Küchenjunge. „Sind wohl gleich weiter. Würde ich auch machen bei so einem geilen Auto.“
Lechner sah seinen Kollegen an, dann zurück zur Theke.
„Hat jemand bemerkt, wann sie gegangen sind?“
Die Kellnerin überlegte.
„Als ich gestern Abend Feierabend gemacht habe, saßen sie noch da.“
Breuer klappte das Notizbuch zu.
„Gut. Falls euch noch was einfällt – irgendwas Ungewöhnliches – ruft uns an.“
Er legte eine Karte auf den Tresen.
Lechner zögerte kurz, dann wandte er sich noch einmal an die Jüngste.
„Wirkten die beiden nervös? Angespannt?“
Sie überlegte, dann sagte sie leise:
„Nein. Eigentlich nicht. Etwas müde, aber mehr nicht.“
Die beiden Polizisten nickten, verabschiedeten sich knapp und verließen das Gasthaus.
Draußen auf dem Parkplatz, zurück im Wagen, sagte Lechner schließlich:
„Sie waren also da. Bestätigt. Dann bestellen wir den Wirt einfach zur Befragung aufs Revier.“
Er startete den Motor.
„Dann fahren wir jetzt nach München“, murmelte Breuer.
„Mal sehen, ob der Besitzer des Wagens schon wieder zuhause ist.“
„Aber wir fahren mit Sondersignal. Ich habe keine Lust, ewig im Berufsverkehr festzuhängen.“
Es war 6:30 Uhr, als der Lieferwagen mit einem sanften Quietschen in die Einfahrt bog. Der Kies knirschte unter den Reifen, die erste Sonne kroch über die Baumwipfel und tauchte den Hof in fahles, frühes Licht.
Beate saß aufrecht auf dem Beifahrersitz, die Finger leicht um den Türgriff geschlossen. Hinter ihr im Laderaum: Stille. Kein Rütteln mehr, kein Wanken. Nur das unsichtbare Gewicht des Wirts.
Alexander schaltete den Motor ab.
„Wir sind da.“
Er öffnete die Fahrertür, stieg aus und ging zur schweren Garage auf der rechten Seite des Hofs – ein altes, breites Tor aus massivem Eichenholz, das elektrisch verstärkt worden war. Mit einem sachten Surren glitt es nach oben, und Beate folgte ihm, als wäre sie schon oft hier gewesen.
Die Garage war groß, hoch, kühl. Sie roch nach Metall, Motoröl und Heu. Zwei weitere Fahrzeuge standen im Schatten: ein alter Defender, mattgrün lackiert, und ein kaum erkennbarer BMW unter einer Plane. Platz genug für den Lieferwagen.
„Hier bekommt man keine Nachbarn, die neugierig gucken“, bemerkte Beate trocken.
Alexander nickte nur.
„Dafür hab ich diesen Ort ausgesucht.“
Sie stiegen aus, er schloss das Tor wieder. Mit einem dumpfen Rumpeln verriegelte es sich.
Beate lehnte sich kurz gegen die warme Motorhaube, ihre Stimme etwas leiser:
„Was machen wir jetzt mit ihm?“
Alexander sah sie an. Nicht ausweichend, aber mit einem Rest Ernst, den sie bisher kaum an ihm gesehen hatte.
„Ich kümmere mich darum. Du brauchst das nicht zu sehen.“
Beate schnaubte leise.
„Ich hab ihn umgebracht.“
„Und ich verfüttere ihn an meine Schweine. Ist doch eine ganz klassische Arbeitsteilung.“
Sie sagte nichts mehr. Stattdessen sah sie, wie er zur Seitentür der Garage ging, die direkt in einen kurzen Verbindungsgang zum Stall führte.
„Komm. Du sollst dich erst einmal frisch machen.“
Sie folgte ihm nach draußen, über den gepflasterten Weg bis zum Haupthaus. Die Villa stand etwas zurückversetzt, inmitten eines verwilderten Gartens. Der Putz war hell, fast weiß, die Fensterrahmen tiefgrau gestrichen. Eine breite Treppe führte zur Eingangstür – doppelflügelig, aus dunklem Holz mit Glasintarsien, die wie alte Kirchenfenster wirkten.
Alexander öffnete.
Drinnen umfing sie Stille und Kühle – und eine stille Eleganz, die Beate überraschte.
Der Eingangsbereich war weit und hoch, mit einem gedämpften, silbergrauen Teppich, der bis zur geschwungenen Treppe führte. An den Wänden: rahmenlose Schwarzweißfotografien – Stadtlandschaften, alte Brücken, menschenleere Alleen im Nebel. Keine Spur von Blut, von Gewalt, von Wahnsinn.
Nur Ästhetik. Und Kontrolle.
Die Halle führte in einen offenen Salon mit bodentiefen Fenstern, schweren Vorhängen, einem tiefblauen Samtsofa und einem Glastisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Eine minimalistische Skulptur aus geschwärztem Stahl stand in der Ecke, daneben eine Leselampe im Bauhausstil. Der Geruch von Holzpolitur und alten Büchern hing in der Luft.
Beate ließ den Blick wandern.
„Ich hätte… etwas anderes erwartet.“
Alexander sah sie an.
„Die meisten erwarten das.“
Er führte sie einen Flur entlang, öffnete eine Tür zum Gästezimmer. Der Raum war hell, ruhig, mit feiner Bettwäsche in Grautönen und einem antiken Sekretär in der Ecke. Das Fenster ging zur Rückseite des Hauses hinaus, von wo man die Felder sah, die sich bis zum Horizont zogen. Im Schrank: schlichte Kleidung – Jeans, Hemden, weite Pullover. Alles sauber gefaltet.
„Das müsste dir passen“, sagte Alexander.
„Im Bad findest du alles andere.“
Beate trat ein, berührte einen der Pullover, prüfte die Textur. Weich. Hochwertig. Nichts davon wirkte zufällig.
„Und du?“
„Ich bring den Wirt dorthin, wo er niemandem mehr auffällt.“
Sie hob eine Braue.
„Und wenn die Polizei kommt?“
Er sah sie ernst an.
„Dann bleibst du hier. Beweg dich nicht. Sprich mit niemandem. Keine Fenster, kein Licht. Ich komme zurück.“
Beate nickte.
Ein Teil in ihr war müde, der andere wach bis ins Mark.
„Und wenn du nicht zurückkommst?“
„Dann weißt du, dass du gehen musst.“
Er ließ die Tür offen und verschwand leise.
Beate atmete durch. Sie schloss die Tür, zog die Vorhänge zu, trat ins Bad – dunkelgrauer Stein, schwarze Armaturen, große Dusche mit Glaswänden. Alles still. Alles durchdacht.
Sie stellte das Wasser an, ließ es über ihre Hand laufen.
Für einen Moment vergaß sie den Wirt. Den Lieferwagen. Alles.
Nur der Klang des Wassers blieb.
Und die Frage, ob dieses Haus wirklich ein Zuhause war.
Oder bloß ein eleganter Käfig mit stabilen Wänden.
Die Luft war dick.
Warm, feucht, durchzogen vom süßlich-schweren Geruch nach Stroh, altem Futter und Schweineschweiß.
Alexander zog die Handschuhe über, sorgfältig, Finger für Finger.
Draußen war das erste Licht über die Felder gewandert, blass und milchig. Drinnen war es dämmrig – nur eine einzelne Neonröhre summte leise über dem Futtertrog. Die Tiere grunzten schläfrig, traten ungeduldig auf der Stelle, schnüffelten nach Bewegung.
Er trat an die Hintertür der Garage und öffnete sie von innen. Die Luft schlug ihm entgegen – feuchtkalt und metallisch.
Der Lieferwagen stand still wie ein Begräbniswagen.
Alexander stieg ein. Kein Zögern. Kein Blick zurück.
Der Wirt lag immernoch eingewickelt in der Wachstuchdecke. Die Form des Körpers war noch erkennbar – ein gebrochener Winkel bei der Schulter, der Kopf zu einer Seite gesunken wie bei einem schlafenden Kind. Nur, dass der Ausdruck eingefroren war. Die Lippen leicht offen, als wollte er gerade fluchen.
Alexander legte eine Plane aus dem Lieferwagen auf den Boden vor der Tür zum Stall.
Er zerrte den Wirt über den Rand, schwer, aber nicht unhandlich.
Ein Körper verliert Gewicht, wenn die Geschichte dazu fehlt.
Sein Gesicht war leer, funktional.
Die Schweine rochen ihn sofort.
Ein Grollen ging durch die Masse, schmatzende Unruhe.
Sie hatten gelernt, was Fleisch bedeutete.
Alexander schleifte den Leichnam zum Rand des umzäunten Innengeheges.
Er klappte das Tor auf – eine breite Luke, die ins Stroh führte.
„Frühstück“, murmelte er leise, wie zu einem Hund.
Er ließ ihn rutschen.
Langsam. Würdevoll. Kein Aufprall.
Die Schweine kamen näher.
Stießen. Witterten. Rissen.
Ein dumpfes Schmatzen begann, das Alexander nie ganz vergaß, egal wie oft er es hörte.
Er blieb noch einen Moment stehen.
Sein Blick: neutral.
Nicht kalt. Nur jenseits von Staunen.
Dann wandte er sich ab, ging zum Waschbecken an der Rückwand, zog die Handschuhe aus, warf sie in den Ofenbehälter und ließ kaltes Wasser über seine Hände laufen.
Sein Blick wanderte durch das kleine Fenster über dem Trog hinaus in die Ferne. Die Sonne war ganz aufgegangen.
Er atmete durch, leise.
Die Ruhe danach war immer dieselbe.
Er trocknete sich ab, kontrollierte ein letztes Mal den Boden – keine Spuren, keine Tropfen.
Er schloss die Luke.
Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf einen abgenutzten Holzhocker am Rand des Raumes.
Er setzte sich. Nur für eine Minute. Nur um zu spüren, ob der Tag ihm gehorchte.
Draußen krähten Hähne.
Ein Hund bellte in der Ferne.
Der Hof war wieder still.
Alexander stand auf.
Es war Zeit, zurück ins Haus zu gehen, um sich auch frisch zu machen.
Das Wasser rauschte gleichmäßig.
Warm. Beruhigend. Fast so, als könnte es Dinge wegspülen, die nicht sichtbar waren.
Beate stand vor dem Spiegel im Gäste-Bad, die Hände auf dem Rand des weißen Waschbeckens abgestützt.
Ihr Blick ruhte auf ihrem Spiegelbild – kühl, wach, aber mit einem Hauch von Müdigkeit um die Augen.
Nicht Erschöpfung.
Eher… Reibung.
„Was war im Taschenbergpalais schiefgelaufen?“
Sie hatte sich nichts anmerken lassen.
Keinen Fehler gemacht.
Ihr Ton war kontrolliert gewesen, ihre Bewegungen wie immer flüssig, sicher, ruhig.
Selbst als Martin sie ins Zimmer eingeladen hatte, hatte sie den Überblick behalten.
Sie hatte getrunken – ja. Aber niemals zu viel.
Und sie hatte ihn getötet – ja. Aber sauber. Unauffällig.
„Verdammt unauffällig.“
Niemand hatte sie gesehen, als sie das Hotel verlassen hatte. Sie hatte die Route vorher geprüft, hatte sich im Aufzug nicht filmen lassen, die Kamera am Eingang hatte sie wahrgenommen und sich entsprechend verhalten. Der Portier hatte nur höflich genickt, kein Gespräch, kein Blick, der zu lang gewesen wäre.
„Also… wie?“
Sie öffnete das Schränkchen über dem Waschbecken. Frische Handtücher. Zahnbürsten. Ein dezent verpacktes Deo, das noch originalversiegelt war.
Sie roch daran, automatisch – Sandelholz, Zitrone, etwas Metallisches darunter.
Sie zog sich das Shirt über den Kopf, ließ es ordentlich auf die Bank neben der Tür sinken.
Bewegung half beim Denken.
Oder beim Filtern.
„Vielleicht war es Martin. Vielleicht hat er was Dummes gesagt. Oder gespeichert.“
Ein kurzer Stich im Bauch.
„Nein… Ich hab das überprüft.“
„Höchstens… wenn die Ehefrau misstrauisch war.“
Sie schnitt sich gedanklich in diesen Gedanken hinein.
„Aber selbst dann – ein Herzinfarkt ist ein Herzinfarkt. Wer sollte den bezweifeln?“
Sie hatte es perfektioniert.
Nicht das Töten – das Schweigen danach.
Sie ließ kaltes Wasser über ihre Arme laufen.
Das Zittern war nicht sichtbar, aber sie fühlte es unter der Haut, wie einen zu hohen Puls.
„Vielleicht war es etwas ganz anderes. Vielleicht die Kontrolle letzte Nacht.“
Die Streife.
Der Polizist, der einen Moment zu lange geschaut hatte.
Hat er sich etwas gemerkt?
„Aber da war nichts. Kein Blut. Keine Spur. Kein Grund, sie zu verdächtigen.“
Vielleicht war es Alexander.
Ein seltsames Gefühl, das sie bisher nicht hatte zulassen wollen.
„Er ist ruhig. Zu ruhig. Wenn einer von uns gesucht wird… dann eher er.“
Er war zu abgeklärt, zu effizient.
Ein Mensch mit einem Ritual – und Ritualen folgt man meistens schon zu lange.
Sie trocknete sich das Gesicht ab, langsam, fast andächtig.
Ihr Blick im Spiegel war klarer. Das Zittern weg.
„Vielleicht… war ich’s gar nicht.“
Vielleicht war es sein Wagen, seine Geschichte, sein Leben.
„Wenn die Polizei kommt, werden sie nach ihm fragen. Nicht nach mir.“
Sie trat aus dem Bad, nur in einem frischen Shirt und der Hose, die sie gefunden hatte.
Schwarz. Eng geschnitten.
Sie passte.
Natürlich passte sie.
Beate setzte sich auf die Kante des Bettes, atmete ruhig durch.
„Ich bin nicht auffällig geworden. Nicht gestern. Nicht heute. Ich hab alles richtig gemacht.“
Ein letzter Gedanke schob sich dennoch wie ein feiner Splitter in ihre Konzentration:
„Aber wenn ich’s doch war…?“
Dann stand sie auf, zog sich die Haare zurück, steckte sie hoch.
Ordnung. Kontrolle. Präsenz.
„Dann regle ich es eben. Wie immer.“
Sie trat an das Fenster, schob die Gardine leicht zur Seite und sah auf den Hof.
Der Lieferwagen war weg.
Alexander kümmert sich.
Sie atmete ein.
Zeit, sich wieder zusammenzusetzen.
Da hörte sie das schrille Läuten der Türklingel.
Szene: Alexanders innerer Monolog – Dusche, Vorbereitung, Entschluss
Das Wasser prasselte auf seine Schultern wie ein gleichmäßiger Trommelwirbel.
Heiß. Hart.
Nicht zur Entspannung – zur Klarheit.
Alexander stützte sich mit beiden Händen gegen die gekachelte Wand der Dusche, den Kopf leicht gesenkt.
Der Dampf kringelte sich in wirbelnden Spiralen in die Luft, als wollte auch er keine geraden Antworten liefern.
„Das war’s nicht. Ich war’s nicht.“
Er wusste es.
Jeder seiner Schritte war bedacht gewesen. Jedes Opfer sorgfältig ausgewählt, jede Spur beseitigt.
Keine Leichen. Keine Fehler.
Keine Zeugen.
Nur Vergangenheit, die sich im Schlamm der Schweineställe aufgelöst hatte.
Er hatte keine Leiche zurückgelassen. Keine Kamera. Kein verdächtiges Muster.
Nichts.
„Also ist es sie.“
Beate.
Er hatte sie anfangs unterschätzt.
Wie sie sprach, wie sie sich bewegte – kühl, überlegt, mit dieser Mischung aus Kontrolle und Verachtung gegenüber der Welt.
Sie hatte etwas an sich, das ihn faszinierte.
Nicht nur, weil sie gefährlich war.
Sondern weil sie ihn… verstand.
Nicht nur in Worten – sondern im Wesen.
Er hatte das gespürt. In der Art, wie sie den Wirt angegiftet hatte.
In dem Moment, in dem sie entschied, dass er sterben muss – nicht zögernd, nicht emotional.
Konsequent.
Klar.
Effizient.
„Die erste Frau, die keine Angst davor hat, wer ich bin.“
Er drehte das Wasser ab, griff nach dem Handtuch.
Wischte sich das Gesicht trocken, als könnte er damit auch die Unsicherheit aus seinen Gedanken vertreiben.
Und trotzdem… war da dieses leise Ziehen im Nacken.
Nicht Angst.
Aber Vorsicht.
„Wenn sie gesucht wird, dann wird das hier nicht lange gutgehen.“
Polizei auf seinem Hof – das war das Letzte, was er brauchen konnte.
Das Letzte, was seine Ordnung ertragen würde.
Er schlüpfte in eine frische Jeans, ein schwarzes Hemd, rollte die Ärmel bis über die Unterarme, prüfte sich im Spiegel.
Glatt rasiert. Die Haare zurückgestrichen.
Ein Mann, der nichts zu verbergen hatte.
Ein Mann, der um 7 Uhr morgens den Stall inspiziert, ein paar Mails beantwortet und sich vielleicht später um die Buchhaltung kümmert.
Er verließ das Bad, ging durch den Flur in Richtung Salon.
Seine Schritte waren ruhig.
Aber innerlich: kalkulierend.
Dann – das Klingeln.
Ein einziger, klarer Ton.
Nicht hektisch. Nicht fordernd.
Nur… da.
Alexander blieb stehen.
Seine Augen zuckten zum Bildschirm an der Wand – ein Livestream der Kameras.
Vor dem schmiedeeisernen Tor: zwei Männer in Uniform.
Polizei.
Er sagte kein Wort.
Ging zwei Schritte zurück, zog das Handy aus der Hosentasche, tippte rasch einen Code ein.
Gästezimmer – Sicherheitsmodus aktiviert.
Magnetverriegelung. Schalldämmung. Bewegungsalarm.
Beate würde darin bleiben. Sie musste.
Dann wandte er sich zur Haustür, überprüfte noch ein letztes Mal seinen Gesichtsausdruck im Spiegel im Flur –
kein Zögern, kein Ärger, nur sachliche Offenheit.
Und öffnete die Tür.
Ein leiser Piepton aus dem Sicherungssystem.
Dann öffnete sich die schwere Eingangstür der Villa.
Alexander stand im Türrahmen, frisch rasiert, das Hemd glatt, die Haare noch leicht feucht vom Duschen.
Hinter ihm: der breite Flur mit dunklem Holz, der Duft nach Leder, Eiche und einer Spur Kaffee.
Vor ihm: zwei Männer in zivil.
Einer Mitte fünfzig, kompakt, wettergegerbtes Gesicht, misstrauisch wache Augen – Oberhauptkommissar Brandl.
Der andere: zehn Jahre jünger, schmaler, zurückhaltend, aber mit dem Blick eines Mannes, der nichts übersah.
Alexander lächelte höflich.
„Guten Tag, die Herren. Sie kommen mit Sicherheit, um mir zu sagen, dass Sie meinen Wagen gefunden haben.“
Oberförster erwiderte das Lächeln nicht.
„Das ist nicht der einzige Grund, weshalb wir den Weg auf uns genommen haben, Herr…“ – er warf einen kurzen Blick ins Notizbuch – „Herr Hahnemann. Es geht auch um Ihre Begleitung bei der Polizeikontrolle gestern Nacht. Eine Frau namens Beate Wolkner.“
Alexander nickte ruhig, öffnete die Tür weiter.
„Verstehe. Kommen Sie doch rein.“
Die Beamten traten ein.
Sie durchquerten die hohe Halle mit der geschwungenen Treppe, dann die Flügeltüren zum Salon.
Ein Raum wie aus einem Wohnmagazin: tiefe Chesterfield-Sessel, ein minimalistischer Kamin, Bücherregale, schwere Vorhänge, gedämpftes Licht.
Alexander wies auf die Sitzgruppe.
„Nehmen Sie Platz. Möchten Sie etwas trinken? Wasser? Kaffee?“
Brandl schüttelte den Kopf.
„Danke, nein. Das dauert nicht lange.“
Der jüngere Beamte setzte sich, zog einen Notizblock hervor, schlug ihn auf.
Der andere blieb stehen – leicht versetzt, mit Blick auf Fenster, Türen, Flur.
Alexander registrierte es. Er lächelte innerlich.
„Herr Hahnemann, können Sie uns kurz schildern, woher Sie Frau Wolkner kennen?“, begann der sitzende Beamte.
Alexander nickte.
„Ich habe sie an einer Raststätte mitgenommen. Sie stand dort allein, sah etwas verloren aus. Es war spät, und sie wollte Richtung München. Ich war auf dem Rückweg von einem geschäftlichen Termin. Da habe ich sie mitgenommen.“
„Sie kannten sich vorher nicht?“
„Nein.“
„Und wie kam es, dass Sie gemeinsam im Gasthaus in Mitterscheyern übernachtet haben?“
Alexander hob leicht die Schultern.
„Wir hatten Hunger. Haben angehalten, gegessen. Es war spät, das Gasthaus wirkte ordentlich, also haben wir beide ein Zimmer genommen. Separat, versteht sich.“
„Und was ist dann passiert?“
„Ich bin früh weiter. Sie wollte ausschlafen und dann am Nachmittag per Mitfahrgelegenheit weiterfahren. Wir haben keine Kontaktdaten ausgetauscht.“
Ein kurzer Blickwechsel zwischen den Beamten.
Dann fragte Brandl: „Also sind Sie heute Morgen von dort aus allein hierher zurückgefahren?“
Alexander nickte erneut.
„Richtig. Mit einem Taxi.“
„Wissen Sie, ob Frau Wolkner Kontakt zur Polizei hatte?“
„Nicht dass ich wüsste. Und wenn – dann bestimmt nicht über mich.“
Der Notizblock raschelte, als der Jüngere etwas vermerkte.
„Ist Ihnen an ihr irgendetwas… ungewöhnlich erschienen?“
Alexander lächelte kühl.
„Sie war belesen. Ruhig. Wir haben über Bücher gesprochen. Keine Ahnung, ob das heutzutage schon als ungewöhnlich gilt.“
Die Beamten wechselten erneut einen Blick.
Brandl zückte schließlich eine Visitenkarte, legte sie auf den Couchtisch.
„Falls Ihnen doch noch etwas einfällt – oder falls sich Frau Wolkner nochmal bei Ihnen meldet.“
Alexander nahm die Karte mit zwei Fingern, sah sie sich kurz an.
„Natürlich.“
Die Beamten erhoben sich.
„Dann bedanken wir uns für Ihre Zeit, Herr Hahnemann.“
„Jederzeit.“
Sie drehten sich zur Tür, da rief Alexander ihnen noch hinterher:
„Ach, eine Frage noch.“
Beide hielten inne.
„Wann wird mein Wagen eigentlich zurückgebracht?“
Brandl runzelte die Stirn.
„Der Wagen wurde sichergestellt. Sie können ihn beim Abschleppdienst abholen – die Adresse finden Sie im Protokoll.“
Alexander lächelte dünn.
„Verzeihen Sie – aber ein Aston Martin wird nicht abgeholt. Er wird gebracht.“
Der Jüngere schnaubte kaum hörbar.
Brandl blinzelte.
Dann nickte er knapp.
„Wir melden uns, wenn er freigegeben ist.“
Und mit einem letzten prüfenden Blick verließen sie den Salon.
Die Tür fiel ins Schloss.
Alexander sah ihnen kurz durch das Fenster nach – dann ging er langsam zurück in den Flur.
Sein Blick glitt zu einer versteckten Kamera über der Treppe.
Er tippte eine kurze Folge auf seinem Handy.
SafeRoom: Zugriff wieder freigegeben.
Dann atmete er durch.
Und ging in Richtung Gästezimmer.
Alexander klopfte einmal – dann öffnete er.
Beate stand am Fenster, das Haar noch feucht vom Waschen, das Handtuch auf dem Stuhl neben dem Bett.
Sie trug ein frisches Hemd – hellgrau, leicht oversized – und eine dunkle Stoffhose, die wohl einer Frau gehörte, die in Alexanders Vergangenheit einmal mehr war als nur Gast.
„Der SafeRoom ist deaktiviert“, sagte er ruhig.
„Du bist offiziell wieder frei.“
Beate drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an die Fensterlaibung. Ihre Haltung war entspannt – zumindest nach außen. Doch Alexander sah sofort, dass sie innerlich arbeitete.
Er blieb in der Tür stehen, ließ ihr Raum.
„Die Polizei war hier. Zwei Beamte. Haben Fragen gestellt – zu dir. Nur vage. Keine Details. Aber es ist eindeutig: Du bist die, nach der sie suchen.“
Beate hob eine Braue.
„Und? Was hast du ihnen gesagt?“
„Dass ich dich an einer Raststätte mitgenommen habe. Dass du im Gasthaus geblieben bist. Dass wir uns nicht näher kannten. Dass ich nichts mit deiner Weiterreise zu tun hatte.“
„Klingt… plausibel“, sagte sie trocken.
Alexander nickte.
„War’s auch. Ich hab nicht gelogen.“
Eine kurze Stille. Dann trat er einen Schritt näher, seine Stimme weicher:
„Beate – die Situation wird nicht einfacher. Ich weiß nicht, warum du unter Beobachtung stehst, aber ich kann mir nicht leisten, Teil deiner Geschichte zu werden. Nicht mehr, als ich es ohnehin schon bin.“
Sie sah ihn lange an. Kein Ärger in ihrem Blick. Keine Enttäuschung. Nur dieses stille Abtasten – wie bei einem Brettspiel, bei dem jeder Zug Konsequenzen hatte.
„Ich verstehe“, sagte sie schließlich.
Ihre Stimme war ruhig, aber rau.
„Ich bring dich nachher zur nächsten Bahnstation. Von dort aus kannst du in jede Richtung verschwinden.“
„Und was ist mit dem Wirt?“
Alexander hob kurz die Schultern.
„Ich kümmere mich drum. Du bist raus.“
Beate schwieg einen Moment, senkte dann den Blick.
„Warum hast du’s überhaupt gemacht, Alexander?“, fragte sie leise.
„Warum hast du mich mitgenommen? Warum hast du mir vertraut, obwohl du wusstest, dass ich nicht… harmlos bin?“
Er zögerte. Dann schob er die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich an den Türrahmen.
„Weil man in meinem Job selten Kollegen trifft.“
Seine Stimme war kaum mehr als ein gedämpfter Ton im Raum.
Dann nickte er ihr zu – eine Geste, so endgültig wie ein letzter Schachzug – und drehte sich um.
Als die Tür hinter ihm zufiel, blieb Beate allein zurück.
Mit der Stille.
Mit dem Wissen, dass es nicht viele gab, die einen wie sie auf Augenhöhe sahen.
Und mit der Ahnung, dass dieser Mann – Alexander – vielleicht nicht der Letzte sein würde, der ihren Weg kreuzte. Aber der Erste, der nicht sofort davor zurückschreckte.
Alexander hatte sich bereits abgewendet, als Beates Stimme ihn stoppte. Kein Wort – nur sein Name, weich gesprochen, fast gehaucht.
Er drehte sich langsam um.
Sie stand da, nur einen Schritt entfernt, ihr Blick dunkel und klar zugleich. Zwischen ihnen lag keine Unsicherheit, nur diese dichte Spannung, elektrisch und unausweichlich. Wie zwei Magnetpole, die sich lange umkreist hatten und nun zusammenstoßen mussten.
Beate trat vor, hob die Hand, legte sie gegen seine Brust. Spürte den ruhigen, gleichmäßigen Schlag seines Herzens. Dann sah sie zu ihm auf. Kein Lächeln, kein Spiel – nur diese stille Gewissheit: Jetzt oder nie.
Alexander beugte sich zu ihr, und als ihre Lippen sich fanden, war es kein vorsichtiges Tasten, sondern ein wortloses Eingeständnis all dessen, was unausgesprochen zwischen ihnen gewachsen war. Die Kälte der Nacht, das Blut an ihren Händen, der Hunger nach etwas Echtem – alles wich diesem Moment.
Sie fielen nicht übereinander her. Es war keine Hast in ihren Bewegungen. Eher ein langsames Erforschen, ein Auflösen der Distanz, Schicht für Schicht, bis kein Raum mehr zwischen ihnen war. Kleidung verschwand, nicht hastig, sondern mit Bedacht, wie bei einer Zeremonie.
Zwei Körper, zwei Geschichten, zwei Wunden – und für einen Moment keine Lüge zwischen ihnen.
Sie berührten sich, als hätten sie sich längst gekannt. Als wären sie aus demselben Material, aus denselben Abgründen geformt. Alles passte: der Rhythmus, die Stille dazwischen, der Blickkontakt, den keiner von beiden brach.
Als sie später nebeneinander lagen, atemlos und schweigend, waren ihre Finger noch ineinander verschränkt. Die Sonne stieg langsam über die Baumwipfel, warf Licht über ihre verschwitzten Körper, über die zerwühlten Laken, über das Ungesagte, das jetzt nicht mehr drängte.
Schließlich setzte sich Alexander auf, zog sich an, langsam, ohne Eile. Beate beobachtete ihn, stützte sich auf einen Ellenbogen. Ihr Blick war nicht weich, aber auch nicht hart. Nur schwer.
„Ich kümmere mich um einen neuen Ausweis“, sagte er leise, ohne sie anzusehen. „Dann müssen wir wohl mal Urlaub in Bulgarien machen.“
Ein schmales Lächeln zuckte über ihre Lippen.
„Wann werden wir uns wiedersehen?“
Alexander drehte sich zu ihr, sein Blick dunkel, klar.
„Du weißt, ich bin nur einen Anruf weit weg. Aber jetzt bring dich erst einmal in Sicherheit.“
Er beugte sich noch einmal vor, küsste sie – sanft, aber bestimmt auf die Stirn.
„Zieh dich an. Ich möchte dir noch etwas zeigen, bevor ich dich zum Bahnhof bringe.“
Beate sagte nichts. Ihre Augen blieben für einen Moment an seinem Blick hängen – etwas in seiner Stimme hatte sich verändert. Sie verschwand zurück ins Zimmer, kam nur Minuten später in dunkler Jeans, schmalem Pullover und halbhohen Stiefeln zurück. Bereit. Bereit für etwas, das sie nicht benennen konnte.
Alexander stand bereits am Telefon, als sie zurückkam.
„Igor? Ich hab was für den Verwerter. Komm mit der Katze. Wie immer – diskret.“
Als er auflegte, war sein Gesicht ruhig. Fast zu ruhig.
„Komm mit“, sagte er. Und sie folgte ihm.
Sie durchquerten die breite Halle, hinab über die steinerne Treppe ins Untergeschoss. Die Wände waren glatt, weiß verputzt, keine Fenster – nur eine schwere Tür am Ende des Flurs. Alexander öffnete sie mit einem Zahlencode. Dahinter: ein Raum wie ein Archiv aus einem anderen Leben.
Schweres Holz, mattes Licht, ein Geruch nach Metall und altem Leder. An der Rückwand: Vitrinen. Präzise arrangiert. In jeder: ein vergoldetes Herz, sorgfältig konserviert, in sich ruhend wie ein kostbares Relikt.
Beate trat näher.
Sie zählte. Neun.
Jedes Herz war mit einer kleinen Gravur versehen. Initialen, Daten, sonst nichts.
„Du sammelst Trophäen“, sagte sie leise.
Alexander schwieg einen Moment. Dann nickte er.
„Ich nenne es Erinnerungsarbeit.“
Beate starrte auf eines der Herzen – klein, filigran, beinahe schön.
„Ist das Herz des Wirts auch hier?“
Alexander drehte sich zu ihr. In seinem Blick lag kein Zynismus, keine Härte. Nur Klarheit.
„Dieses Herz war nicht für diesen Raum bestimmt.“
„Was ist dann mit ihm passiert?“, fragte sie.
Er zögerte.
Dann:
„Je weniger du weißt, desto sicherer ist es für uns beide.“
Stille.
Dann öffnete er die Tür und ließ sie zurück ans Licht steigen.
Draußen wartete ein dunkler Jaguar. Ein osteuropäisch aussehender Mann stand daneben, stumm, mit ruhigem Blick.
Beate blieb neben Alexander, ihr Körper auf Distanz, doch innerlich voller Spannung.
„Das ist Igor“, sagte Alexander knapp, „er redet nicht viel. Dafür weiß er, was zu tun ist.“
Er ging dem Mann entgegen, sie wechselten ein paar Worte auf Tschechisch. Igor nickte nur, keine Miene verzog sich, keine überflüssige Geste. Dann reichte Alexander ihm einen Schlüssel.
Beate beobachtete, wie Igor um das Haus ging, durch die Seitentür in die Scheune verschwand – dorthin, wo der Lieferwagen des Wirts wartete. Es dauerte keine drei Minuten, bis der Motor brummte. Ohne Hast, aber zielsicher lenkte Igor das Fahrzeug aus dem Schatten der Scheune, überquerte das Gelände und verschwand durch das Haupttor, das sich automatisch für ihn öffnete.
„Der Verwerter“, sagte Alexander leise. „Er fragt nie, woher oder wofür.“
Beate blickte dem Wagen hinterher. Keine Reue, kein Triumph – nur diese stille Gewissheit, dass es jetzt endgültig kein Zurück mehr gab.
Alexander wandte sich ihr zu.
„Komm. Igor hat den Jaguar vollgetankt. Wir fahren.“
Beate folgte ihm wortlos, stieg auf der Beifahrerseite ein. Die Türen schlossen sich mit einem satten Klicken, das mehr versprach als bloße Fortbewegung.
Der Motor erwachte – leise, kraftvoll, wie eine Raubkatze, die nur schläft, wenn sie es will.
Sie verließen das Anwesen ohne Hast. Der Kies wich dem Asphalt, und langsam schob sich die Landschaft an ihnen vorbei.
„Wenn du noch Fragen hast, jetzt ist die Zeit“, sagte Alexander ruhig, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
Beate schwieg. Ihre Gedanken waren zu laut für Worte.
(Fortsetzung folgt)